Cornelia Achenbach: Nachtwanderung, Wunderraum by Wilhelm Goldmann Verlag, München 2022, 282 Seiten, €20,00, 978-3-442-31606-9

„Ines ist schwindlig. Reflexhaft würgt sie die Wörter hervor, stellt die Fragen, die es nun zu stellen gilt, die offensichtlichen, obwohl sie am liebsten eine Abkürzung nehmen würde. Zurück zu der Zeit der alten Vertrautheit. Zigarettenteilend auf dem zerblitzten Baum. Geheimnisse flüsternd im trüben Zustand kurz vor dem Einschlafen, die Köpfe gebettet auf weichspülerduftigen Kissen. Stattdessen: ‚Wo bist du gewesen? Warum bist du abgehauen?’“

Sie waren allerbeste Freundinnen, Ines und Kirsten. Bis, ja bis Kirsten als sie vierzehn Jahre alt war, plötzlich von einem Tag auf den anderen aus Ines‘ Leben verschwunden ist. Was damals geschehen ist und warum die einzige Freundin nie auf ihren Brief geantwortet hat, lässt Ines bis heute keine Ruhe. Immer wieder malt sie sich aus, wie es wohl heute mit Kirsten sein würde.
Mittlerweile ist Ines verheiratet und hat Marie bekommen, ihre jetzt vierjährige Tochter. Sie arbeitet als PR-Frau. Ihr Alltag ist gezeichnet von all den Aktivitäten, die berufstätige Mütter mit Kind durchleben. Ihr Mann Martin ist die Ruhe selbst und langsam jedoch empfindet Ines ihre Liebe zu ihm wie „lauwarmen Tee“. Zuverlässig, solide, routiniert.
Denkt Ines an Kirsten, dann stellt sie sich ihr Leben abenteuerlich und aufregend vor. Denn Kirsten war das Gegenteil von Ines, eine charismatische, schillernde Person mit reichen Eltern, mit der alle befreundet sein wollten, ganz besonders die Jungen in der Klasse. War Ines einst doch eifersüchtig auf Kirsten, wollte auch sie einmal im Mittelpunkt stehen, beachtet werden und nicht nur ein Anhängsel sein? Hat sie nicht erkannt, wie einsam auch Kirsten war?

Neunzehn Jahre später flattert nun eine Einladung zum Abiturjahrgangstreffen ins Haus und Ines fragt sich, ob sie die weite Reise vom Norden in den Süden antreten soll, um vielleicht doch Kirsten wiederzusehen. Neben Kirsten wäre da auch noch Michael, aber auch Jonas, Karoline und die anderen. Als Kirsten damals für drei Tage gesucht wurde, malten sich alle das Schlimmste aus. Dass sie dann auf ein englisches Internat gegangen ist, sickerte langsam durch. Ines ahnte auch, dass Kirstens Mutter ihre Post einfach weggeworfen hat. Doch auch Kirsten hätte 1996 Kontakt zu Ines aufnehmen können. Mit Marie reist Ines nun zu den Eltern, trifft Michael in der Stadt und geht zum Klassentreffen. Bis zu diesem Moment erfahren die Lesenden alles aus der personalen Perspektive über Ines. Dann ändert sich der Blickwinkel und Kirsten steht im Mittelpunkt.
Beide Frauen stehen sich gegenüber und müssen mit ihren Emotionen klarkommen und endlich klären, was einst nach dem Schulfest geschehen ist.
Kirsten lebt mit Lügen. Sie hat ihrer Freundin vieles vorgemacht und auch später ihrem Umfeld nur selten die Wahrheit gesagt. Einem Fluchtinstinkt folgend begibt sie sich auf Reisen, von denen ihr Mann Roland, ein Psychologe, sie immer wieder zurückholt. Was ist mit dieser Frau, welche Schatten aus der Vergangenheit verfolgen sie? Was für ein Verrat bei der Nachtwanderung und dem Schulfest stattgefunden hat, an dem Ines angeblich beteiligt war, wird sich im Laufe des Klassentreffens klären.

Im Wechsel der Perspektiven und zeitlichen Sprüngen in die Schulzeit und zurück in die Gegenwart entwirft Cornelia Achenbach eine spannende Handlung, in der in Dialogen ab und zu nur einfach verkürzten Sätzen angedeutet wird, was den Figuren im Kopf herumgeht. In den Reflexionen geht es immer um den Verlust der besten Freundin und welche Leerstelle und auch zwischenmenschliche Probleme dadurch entstanden sind. So kann sich Ines, neben Martin, kaum auf jemand anderen einlassen.

Wie sehr die subjektiven Empfindungen doch von denen abweichen, die andere vermitteln. Wie sehr ein Ideal doch nie der Wirklichkeit gleicht, davon erzählt dieser psychologisch zum Glück nicht überfrachtete Roman.