Julia May Jonas: Vladimir, Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné, Karl Blessing Verlag, München 2022, 351 Seiten, €24,00, 978-3-89667-731-0

„Ich wollte Nähe, intime Nähe von dem Moment an, als ich ihn mit überschlagenen Beinen im Fenster gespiegelt sah. Es war, als hätte sich mir eine ganze Welt geöffnet, und wenn schon nicht eine Welt, dann ein bodenloser Abgrund. Das anhaltende, berauschende Delirium des freien Falls.“

Die Ich – Erzählerin ist eine langjährige Dozentin für Literatur an einem nicht gerade berühmten College im Osten der USA, nicht weit von New York. Sie hat zwei kaum bedeutende Romane geschrieben und sagt von sich, dass sie wirklich klein ist und achtundfünfzig Jahre alt. Ihr Mann John leitet den Fachbereich für Englische Literatur, ist suspendiert und hat ein Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs am Hals. Keine Frage, er hat mit vielen jungen Studentinnen geschlafen und ihnen dann gute Beurteilungen ausgestellt. Allerdings hat er angeblich nie eine Frau zum Sex gezwungen und als klar war, dass Beziehungen zwischen Lehrkräften und Studierenden passé sind, hat er sich eben woanders umgesehen. Von Anfang an war klar, dass sie eine offene Ehe führen möchten, denn auch die Erzählerin hatte so ihre Affären. Doch als Tochter Sidney auf die Welt kam, hielt sich die Erzählerin zurück.
Doch nun lehrt ein gutaussehender vierzigjähriger Juniorprofessor namens Vladimir Vladinski am College und in der Erzählerin erwachen wieder Bedürfnisse. Mit John hat sich über die Zeit eher ein Leben in einer Wohngemeinschaft entwickelt. Jeder geht seiner Wege, doch man wohnt noch zusammen. In Würde miteinander alt zu werden, scheint schwierig zu sein. Die Erzählerin geht mit der Suspendierung ihres Mannes sehr gelassen um, auch als Studentinnen in ihrer frech-forschen, wie penetranten Art sie dazu auffordern, sich scheiden zu lassen. Vladimir ist mit der begabten, aber doch sehr labilen Cynthia verheiratet und hat eine dreijährige Tochter.
Die Erzählerin und ihr Mann geben sich links, äußerst belesen, offen und modern. Sie haben kaum gemeinsame Freunde und so lädt die Erzählerin Vladimir und seine Familie an ihren Pool ein. John durchschaut sehr schnell, was seine Frau empfindet. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, erhofft er sich doch mehr Loyalität von seiner Frau für seine Anhörung vor der Antidiskriminierungsstelle. Die Erzählerin kennt sich und ihre Eitelkeiten ziemlich gut und sie ahnt, dass Vladimir sich vielleicht für ihr kritisches Urteil über seine literarischen Arbeiten interessiert, aber nicht für sie als Frau.

„Ich hatte auch nicht meinen hochgereckten Oberarm vor Augen, von das Fleisch herunterhing wie ein halb mit Pudding gefüllter Gefrierbeutel.“

Als John sich der Anhörung stellen muss, sind die Erzählerin und Vladimir verabredet. Sie zeigt ihm ihr Hütte, die sie sich durch eine Erbschaft anschaffen konnte, um mit ihm allein zu sein. Zu viel Alkohol und Tabletten lassen die Erzählerin eine Entscheidung treffen, die zu keinem guten Ende führen kann.
Etwas unklar bleibt bis zum Ende, wohin diese ganze Geschichte eigentlich führen sollte. Geht es um Missbrauch von allen Seiten, denn auch die peinlich wirkende Erzählerin handelt, wenn es um ihre Begierden geht übergriffig oder zeichnet die Autorin ein Bild von den Liberalen der Gesellschaft, die alles andere als liberal sind?
Immer wieder werden berühmte Namen von Literaten und Literatinnen genannt, um sie einfach mal zu nennen. Kurzum, ein Roman, den man etwas ratlos aus den Händen legt.