Helene Flood: Die Psychologin, Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein, btb Verlag, München 2022, 381 Seiten, €16,00, 978-3-442-75897-5

„Wechsle den Fokus, sehe nur mich selbst und das leere Arbeitszimmer hinter mir, das man im Spiegelbild lediglich erahnen kann. Und als ich erneut hinausblicke, wird es mir klar. Es ist, als würde alle Luft aus dem Raum gesogen. Für eine kalte Sekunde oder zwei stehe ich so da, halte meinen Blick zwischen den beiden Einstellungen und sehe beides gleichzeitig, den Garten dort draußen, mich hier drinnen im Arbeitszimmer. Plötzlich weiß ich es. Und mir wird klar, dass niemand außer mir darauf kommen kann.“

Sara Lathus lebt mit ihrem Mann Sigurd Torp in einem großen, baufälligen Haus mit Blick über Oslo, dass Sigurd von seinem Großvater geerbt hat. Immer wieder von Krisen geschüttelt, scheint die Beziehung der Anfang Dreißigjährigen langsam besser zu werden. Sara hat sich als Psychologin eine Praxis eingerichtet und Sigurd arbeitet in einer Architektengemeinschaft. Allerdings belastet Sara, dass nur wenige Räume wirklich ansehnlich sind und nichts bei den Renovierungsarbeiten so richtig vorangeht. Sie bemüht sich nicht um mehr Klienten und verdient somit wenig Geld und auch Sigurds Arbeit scheint nicht so gut zu laufen, wie erhofft. Die Spannungen werden immer größer und auch der Frust. Sara ist einsam und Sigurd am Abend nur mit seinem Laptop beschäftigt.

Als Sigurd sich dann mit Freunden in eine Ferienhütte treffen will, erreicht Sara auf ihrer Mailbox, sie hat an diesem Freitag drei Klienten, die Nachricht, dass er angekommen sei.
Doch dann ruft ein Freund an und berichtet, dass Sigurd zum vereinbarten Treffen nicht erschienen ist. Am Sonntag geht Sara mit ihrer Schwester Annika zur Polizei, kaum später erfährt sie, dass die Polizei eine Leiche gefunden habe. Sigurd wurde an der Fischerhütte gefunden, die eigentlich seinem Bruder Harald gehört, der allerdings im Ausland lebt.
In Gedankenströmen erinnert sich Sara an den Beginn ihrer Beziehung zu Sigurd, sie überdenkt ihren Kontakt zu ihrer Familie und sie fragt sich, warum Sigurd offensichtlich gelogen hat.

Helene Flood lässt Sara aus ihrer Perspektive alles beschreiben und bewerten. Ihre Trauer scheint ihre Beobachtungsgabe jedoch kaum zu beeinflussen.

Seltsame Dinge gehen im Haus vor sich. Mal ist der Zeichenköcher von Sigurd verschwunden und dann hängt er wieder am alten Platz. Sara fühlt sich im Haus nicht sicher, zumal auch noch Sigurds Handy im Garten gefunden wird. Sie beauftragt eine Sicherheitsfirma und diese entdeckt, dass bereits Kameras, auch im Schlafzimmer, Saras intimstes Leben beobachten. Ein Mitarbeiter im Architektenbüro erzählt, dass Sigurd sich mit einer sehr jungen Frau getroffen habe. Dann ist plötzlich der alte Revolver von Großvater Torp verschwunden.
Der Ermittler Gunnar Gundersen Dahle taucht immer wieder mal auf, aber wie und wo er ermittelt, wird kaum erwähnt.
Nach und nach gewinnen die Lesenden ein Bild von Saras Leben und ihrer Ehe und sie erkennen, dass eine Ungereimtheit nach der anderen zu neuen Wendungen in diesem Fall führen. Denn kein irrer Mörder scheint es auf Sigurd abgesehen zu haben, sondern irgendjemand aus seinem Umfeld.

Spannend liest sich dieser ungewöhnliche Thriller, der ohne Gewaltexzesse nur aus Saras Erkenntnisstand und Ängsten heraus seine ungeheure Dynamik entwickelt. Dabei führt die norwegische Autorin ihre LeserInnen immer wieder auf eine falsche Spur und wiegt sie nie in der Sicherheit, Sigurds Leben zu durchschauen.