Lisa Jewell: Was damals geschah, Aus dem Englischen von Carola Fischer, Limes Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe, München 2021, 425 Seiten, €15,00, 978-3-8090-2732-4
„Von dem Tag an, als David uns die Schuhe wegnahm, bis zur Nacht unserer Flucht zwei Jahre später, setzte niemand von uns mehr auch nur einen Fuß vor die Tür.“
Libby Jones arbeitet für einen Luxusküchenhersteller und verdient sehr wenig. Als sie dann jedoch zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag ein Schreiben von einem Anwalt erhält, kann sie nicht fassen, was dieser ihr mitteilen wird. Keine Frage, die Erbschaft eines Hauses im noblen Chelsea ist Millionen wert. Libby hat keine Ahnung, dass sie das legendäre Baby namens Serenity Lamb ist, dass vor gut fünfundzwanzig Jahren in diesem Haus in Chelsea neben drei Leichen gefunden wurde. Offenbar hatten die Erwachsenen einen Selbstmordpakt geschlossen. Allerdings konnten aus dem Haus die Kinder des Ehepaares Lamb fliehen. Beide waren tot und die dritte Leiche konnte nie identifiziert werden. Libby lässt diese Geschichte nicht los und so engagiert sie den Journalisten Miller Roe, der bereits über diesen Fall intensiv recherchiert hatte.
Die englische Autorin Lisa Jewell lässt eine Stimme wie aus dem Off von den bedrückenden Geschehnissen vor gut einem Vierteljahrhundert erzählen. Und sie verfolgt den Weg von Lucy, die nie richtige Papiere hat, mit ihren beiden Kindern, die in Südfrankreich vom Pech verfolgt sind. Den Lesenden wird nicht offenbart, wer diese beiden Personen sind. Nur in dem Moment, wo sie mit Libby im Haus zusammentreffen, setzt sich das Puzzle zusammen.
Die Familie Lamb, der das hochherrschaftliche Haus gehörte, konnte aufgrund des Vermögens des Großvaters gut leben. Doch irgendwie wurde das Geld immer weniger. Als dann 1988 Birdie Dunlop-Evers, eine verkappte Musikerin, sich mit Mrs. Lamb angefreundet hat, verlässt diese das Haus nicht mehr. Sie holt nicht nur ihren Freund Justin ins Haus, sondern auch noch weitere Fremde, David und Sally Thomsen mit ihren Kindern. David bestimmt dominant nach kürzester Zeit alles, was im Haus geschieht. Mr. Lamb hatte einen Schlaganfall und Mrs. Lamb scheint David irgendwie hörig zu sein. Henry, der Sohn der Lambs, beobachtet das Geschehen und kann nicht fassen, dass sich David im sogenannten Namen der Armen, sich alles, was an Werten im Haus noch übrig sind, unter den Nagel reißt. Einer Sekte gleich leben die Erwachsenen und Jugendlichen nun in selbstgenähten Kleidern, natürlich fleischlos und vegan im Haus. Niemand darf das Haus verlassen, ein Lieferdienst bringt Gemüse. Der Lieferant soll bei der Polizei später ausgesagt haben, dass er dachte, im Haus leben Nonnen. Kein Lehrer, kein Jugendamt, keine Behörde kümmert sich um die minderjährigen Jugendlichen, die dem Diktat eines Despoten ausgeliefert sind. Henry wehrt sich gegen David, kann aber wenig ausrichten. Als Justin, der sich um den Kräutergarten kümmert, Henry in die Kunst der Kräuter einweist, ahnt er nicht, was geschehen könnte.
Als sich David zu seiner sexuellen Gespielin Birdie auswählt, verlässt Sally das Haus. Doch sie nimmt ihre Kinder nicht mit, ein Drama. David wird in seiner Selbstherrlichkeit vor keiner weiblichen Person im Haus halt machen und fast jede begatten, auch die minderjährige Schwester von Henry.
Nach und nach beginnen die Lesenden zu verstehen, was sich an einem verhängnisvollen Tag im Haus in Chelsea zugetragen hat. Dass die Jugendlichen sich unbedingt aus diesem Gefängnis befreien wollten, in dem alle langsam krank wurden, kann jeder verstehen.
In einer Mischung aus Kriminal- wie auch Horrorgeschichte erzählt Lisa Jewell von der Faszination, die ein Mann auf Frauen ausüben kann. Woher dieser Psychopath und Schmarotzer David Thomsen gekommen ist, bleibt offen. Einem Guru gleich betet er die Armut und den Verzicht an, um sich selbst zu bereichern und auf Kosten anderer zu leben. Er ist der dritte Tote im Haus.
Spannend liest sich dieser Thriller, der von menschlichen Abgründen erzählt, die sich ein Jugendlicher nicht mal in seinen Albträumen vorstellen kann.
Unbeschadet hat dieses Haus niemand verlassen.