Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September, Piper Verlag, München 2021, 224Seiten, €22,00, 978-3-492-05990-9
„Man lebt zusammen und sieht nicht, was den anderen ausmacht. Ich spüre eine große Verlassenheit. Schön wäre es, ich könnte mir einen Zugang legen, ähnlich einer Bluttransfusion, zu dem, was mein Leben war.“
Zu spät erkennt der einst so empfindungslose Walter ( Er schenkt zum Hochzeitstag immer einen Gummibaum. ), was er vielleicht an seiner Hilde hatte, an seinem Leben in einem Dorf irgendwo im Osten, in Brandenburg oder Mecklenburg. Vierzig Jahre war er mit seiner Frau, die Gedichte schrieb, eine seltsame Sprache erlernte und als Arzthelferin gearbeitet hat, zusammen. Er hat die kinderlose Ehe mit seiner Wut und seinem Zorn, insbesondere nach der Wende, und seinen Demütigungen vergiftet. Als ein gefährlicher Gehirntumor bei ihm diagnostiziert wird, und ihm fast Hörner wachsen, wandelt sich sein Charakter. Er wird sanft, verständig und plötzlich erträglich. Doch seine Wesensveränderung, er ahnt trotz Arztbesuch nichts von seinem nahen Tod, hält Hilde nicht davon ab, ihren Mann mit der Axt zu erschlagen und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
Nun geistert Walter als Toter durch sein Dorf und kann nicht verstehen, was eigentlich geschehen ist. Er erinnert sich an seine Ehe, an seine Ausbrüche und sucht nach Hilde. Er trifft weitere Tote, auch seine herzlose Schwiegermutter, einst Schäferin, die ihrer Tochter nie viel zugetraut hat. Walter wird zum Chronisten seines Dorfes, denn er berichtet über die Leute und die Enge im Dorf.
Angelika Klüssendorf öffnet immer wieder neue Erzählstränge, um diese nicht zu beenden. Für Verwirrung sorgend widmet die Autorin, die jetzt auch wieder im Brandenburger Land lebt, sich nun den Lebenden und den Toten im Dorf. Wobei die Lebenden sich als bunter Reigen an Figuren entpuppen. Zum einen ist da die Schriftstellerin mit ihrem attraktiven Partner, dem Trommler, dann gibt es Leute, die dem Alkohol zusprechen und sogar zu spät zum Feuerwehreinsatz kommen. Eine adipöse Frau hofft auf die große Veränderung, weil sich ein Herr Spielberg aus Amerika angesagt hat und eine Mann aus Uruguay kann sich endlich nach seiner Scheidung von einer sächsischen Tyrannin zu seiner weiblichen Seite bekennen. Es gibt den Biobauern aus dem schönen Westen, abgehalfterte Hartz IV – Empfänger, ein Rollschuhmädchen, dass als einzige das Dorf verlassen wird und Branka, die Frau am Tresen.
Ein Chor aus Stimmen, jede Figur kommt zu Wort, wobei sich Walters Beobachtungen wie ein roter Faden durch den Roman hindurchziehen, erzählt vom Dorfleben, seiner Beschränktheit, die auch nach der Wende sich kaum aufgehoben hat. Sogar die Toten können das Dorf nicht verlassen, was sie mehr als ärgert. Ihr Nachtprogramm sind die Träume der Lebenden, die wie Filme in andere Welten führen.
In einer kühlen, lakonischen, geradezu minimalistischen Sprache beschreibt Angelika Klüssendorf, die beide Teile Deutschlands gut kennt, in ihrem schmalen Roman vom Geschlechterkampf, alten festgefahrenen Strukturen, vom Einfluss des Mauerfalls auf die Menschen, vom Versagen, von Geheimnissen und Sehnsüchten, u.a. nach einem besonderen Tag, dem 34. September.
Und auch dieser würde wahrscheinlich nichts ändern.