Julia Franck: Welten auseinander, S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2021, 368 Seiten, €23,00, 978-3-10-002438-1
„Die einzige verlässliche Beziehung, die ich in meiner Kindheit entwickelte, war die zu meinem Tagebuch.“
Dieses Buch ist kein Roman, sondern ein autofiktionaler Text, der, um es gleich vorwegzunehmen, zutiefst berührt. Mal erzählt die Autorin vom Mädchen, um doch etwas Distanz zu sich herzustellen, dann wieder von Julia und ihrer Zwillingsschwester Johanna Franck, um mal beiden oder nur Julia ganz nah zu sein. In der Rahmenhandlung dreht sich alles um Julias große wie tragische Liebe zu Stephan. Sie lernt ihn mit achtzehn Jahren am Gymnasium kennen und er ist es, der für sie wiederum neue Horizonte eröffnet. Welten entfernt von ihrer Herkunft stammt Stephan aus einer intakten Familie, dessen Eltern als Juristen wohlbetucht im südwestlich gelegenen Westberlin wohnen. Welten entfernt sind für Julia, aber auch Stephan die beiden deutschen Staaten. Der Mauerfall führt wiederum zur Familienzusammenführung der ganz eigenen Art.
In ihren Erinnerungen wandert die Autorin in der Binnenhandlung zu ihrer eigenen Familiengeschichte zurück. Zum einen sind viele Mitglieder in der ganzen Welt verteilt, zum anderen stehen die sehr starken, allerdings auch extrem egoistischen wie selbstsüchtigen Frauen im Mittelpunkt der Reflexionen. Da ist die steife, wie vornehme Urgroßmutter Lotte, aber auch die burschikose Großmutter, Ingeborg Hunzinger, eine einst bekannte Bildhauerin, die mit ihrem politischen Engagement im Staat DDR eher eine Salonkommunistin war, die die Staatssicherheit genauso im Rücken hatte, wie andere Künstler, die bereits vor der Wolf Biermann – Ausbürgerung die DDR verlassen haben. In vielen plastischen Szenen berichtet Julia Franck von einer kompromisslosen Frau, die konsequent das für sie verlogene Weihnachtsfest ablehnt und immer ein offenes Haus für Freunde und KünstlerInnen geführt hat. Durch die Generationen hinweg zieht sich wie ein roter Faden die Unabhängigkeit, um welchen Preis auch immer, der Frauen mit Kindern in ihrer Familie, allerdings ohne feste lange Partnerschaften.
Auch Julia Francks Mutter Anna, eine Schauspielerin, entschloss sich Ende der 1970er Jahre zu diesem Schritt. Nach vier Jahren Wartezeit durfte sie mit ihren vier Töchtern ( Julia ist zu dieser Zeit acht Jahre alt. ) in den Westen ausreisen. Auf der Suche nach einer Waldorfschule und der Vorstellung von Freiheit, die Mutter wird ihren Beruf im Westen nicht ausüben, lebt die Familie Franck als Selbstversorger mit Tieren und als Sozialfall künftig auf einem Bauernhof in Schleswig-Holstein.
Über die Jahre ihrer Kindheit bis zum dreizehnten Lebensjahr berichtet Julia Franck eindrücklich.
War die Mutter einerseits eine begnadete Geschichtenerzählerin und Förderin jeglicher Fantasiespiele, so hat sie ihre Zwillinge im Gegensatz zur sechs Jahre älteren Schwester und der Jüngsten als Ballast empfunden. Allein auf sich gestellt, haben die Mädchen den Haushalt geschmissen, kannten keine Zahnbürste oder Kamm, liefen im Sommer nur barfuß und verwahrlosten in einem Ausmaß, das man sich heute schwer vorstellen kann. Kein Geld für den Bus, aber Geld für Zigaretten und Wein in Pappkartons. Eine Mutter, die ihre Tochter, die in gewisser Weise auch keine Regeln kannte, wenn sie beim Klauen erwischt wurde, nicht abholte, geschweige denn mit ihr sprach. Die Messi-Eigenschaften der Mutter übertragen sich auf den gesamten Haushalt. Die Kinder leben in einem ungeheuren Dreck und Chaos, in dem immer wieder Zank und Streit mit der älteren Schwester ausbrechen. Auf sich gestellt sind die Kinder bei allem. Als die Zwillinge ihre Großeltern ( Eltern ihres leiblichen Vaters ) im Westen anschreiben, besuchen sie den Großvater und die Großmutter, um beim zweiten Mal aus dem Hause gejagt zu werden. Langsam beginnt Julia ihre Mutter zu hassen, ihre Gleichgültigkeit, ihre Ignoranz der Umgebung, ihre Sehnsucht nach Freunden in anderen Hippiekommunen. Eine Mutter, die erwartet, dass ihre Kinder ihren Geburtstag würdigen, aber den ihrer Kinder einfach vergisst, kann keine Zuneigung erwarten. Mit den Jahren schämen sich die Töchter für die nackt im Garten herumlaufende, einst doch so attraktive Mutter. Die Vorstellung, dass die Töchter sich um die Mutter kümmern müssten, hinterlässt auch beim Lesen einen schalen Geschmack.
Mit dreizehn Jahren schafft es Julia, dass Freunde der Familie, die ebenfalls aus der DDR ausgereist waren, sie in Westberlin aufnehmen und sie mit der Unterstützung der Sozialhilfe zur Schule gehen kann. Immer duckt sich Julia ab, in der Schule, beim Putzen für andere Leute. Sie will nicht auffallen und wird doch gnadenlos von Mitschülern gemobbt und muss Gewalt erfahren. Beim Lesen fragt man sich schon, was Lehrer oder Lehrerinnen von ihren Schülern wissen und ab wann das Jugendamt wirklich eingreift.
Julia versinkt immer mehr in ihrem Tagebuch, aus dem auch Auszüge im Buch erscheinen, schreibt sich in einen Rausch und scheint ihre Umgebung damit zu verunsichern. Wie man diese Kindheit, abgeschoben zu Pflegeeltern, in Kinderheimen, ungeliebt und nur geduldet, wenn man arbeitete, heil übersteht, bleibt unklar.
„Im Herbst versuchte ich einen ersten Brief an meine Mutter zu schreiben, aber mir fiel nichts ein. Nach einigen Anläufen schrieb ich ihr, dass sie mir zu fremd sei, um an sie zu schreiben.“
Als Julia Franck fünfzehn Jahre ist, nimmt ihr leiblicher Vater Kontakt zu ihr auf. Auch diese Beziehung endet tragisch.
Stark muss man sein, wenn man aus diesen doch eigentlich prägenden Jahren ganz allein für sich Optimismus schöpfen kann.
Sprachlich berichtet Julia Franck eher nüchtern von ihren Kindheitsjahren, den Tragödien in ihrer Familie, dem frühen Tod Gottliebs, des innig geliebten Bruders von Anna, der zur Zeit des Mauerbaus sich das Leben nahm. Sich alles von der Seele schreiben, das scheint Julia Franck für sich getan zu haben.
Viele bekannte und weniger bekannte Personen streifen das Leben der Familie im Osten wie im Westen und manchmal ist es vielleicht ein bisschen zu viel Namedropping.
Und doch eine fesselnde, wie berührende Lektüre, die lang nach dem Lesen noch nachhallt.