Val McDermid: Ein Bild der Niedertracht, Ein Fall für Karen Pirie, Aus dem Englischen von Kirsten Reimers, Droemer Verlag, München 2021, 492 Seiten, €16,99, 978-3-426-28268-7
„Was zur Hölle sollte das alles? Sie war eine gute Polizistin, das wusste sie. Aber sie war nicht der verdammte Sherlock Holmes. Geheimnisvolle Hinweise und die französische Fremdenlegion? Das war die Art von Blödsinn, über die sie und Phil sich sonntagabends vor dem Fernseher lustig gemacht hatten. In einer Dachwohnung in Paris herumzustehen und so einem Agatha-Christie-mäßigen Schwachsinn einen Sinn abzuringen, war nicht das, was sie unter solider Polizeiarbeit verstand.“
Dieser anspruchsvolle und bis kurz vor Ende absolut spannende Krimi feiert seine weiblichen Ermittler und deren Fähigkeiten. Zum einen ist da die erfahrene DCI Karen Pirie, die immer noch um ihren Mann Phil trauert, auch wenn mit dem großzügigen und allzu besorgten Hamish schon eine neuer Partner in Sicht ist. Sie ist eher für die „Historic Cases“ zuständig, die aber für sie genauso wichtig sind, wie die aktuellen. Mit denen beschäftigt sich DS Daisy Mortimer, die vor ihrer ersten Teilnahme an einer Obduktion steht. Und dann ist da noch die sehr fordernde, super attraktive ACC Ann Markie, die schnelle Ergebnisse von allen fordert. Aber auch diejenigen, die immer im Hintergrund die Computerdaten auswerten, die Spuren und vieles andere sind clevere Frauen. Natürlich ermitteln auch männliche Kollegen, aber sie haben nicht viel zu melden. Auch mal ganz schönKalt ist dieser Februar im Jahre 2020. An der schottischen Küste ziehen die Fischer eines Hummerbootes einen Toten aus dem Wasser. Das Opfer gibt der Polizei so einige Rätsel auf, denn es ist nicht Paul Allard, ein Jazzmusiker aus Paris, sondern James Auld, ein schottischer Bürger, der sich nach dem Verschwinden seines Bruders Iain, eines hohen Beamten, nach einem heftigen Streit vor zehn Jahren aus dem Staub gemacht hatte. Über eine längere Zeit diente er in der französischen Fremdenlegion und arbeitete dann im Jazzclubs. Warum er mit seinem neuen Pass als Franzose immer wieder in Großbritannien auftauchte, ist unklar.
Parallel zu diesem Handlungsstrang ermittelt Karen Pirie. Gefunden wurde eine skelettierte Leiche in einer Garage. Die Inhaberin der Garage ist vor kurzem bei einem Unfall zu Tode gekommen und ihre Schwester sah sich nun in Haus und Garten um. Der alte VW-Camper, der offensichtlich abgemeldet wurde, führt die Ermittler zur Ex-Freundin der Verunfallten Amanda McAndrew. Sie hatte sich als neuen Lebensort eine Künstlerkolonie ausgesuchtEs dauert eine ganze Weile, ehe der Leser so richtig auseinanderhalten kann, um wen es bei den beiden Leichen eigentlich geht. Als dann in die Handlung auch noch eingeschoben wird, dass Karen Pirie den Mörder ihres Mannes, der seltsamerweise nach dreieinhalb Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird, stalkt und sich dadurch mit ihrem neuen Freund überwirft, wird es so richtig kompliziert. Geschickt führt Val McDermid jedoch den Leser über alle Klippen. Da der Mord an James Auld geklärt werden muss und das Verschwinden von Iain Auld nun vor zehn Jahren eine Cold Case ist,
arbeiten Karen und Daisy, die auch noch gut Französisch sprechen kann, zusammen. Natürlich verliert Karen ihre Leiche aus dem Camper nicht aus den Augen. Schnell ist geklärt, dass Amanda die Künstlerkolonie mit einer Silberschmiedin namens Dani Gilmartin verlassen hat. Nach ausführlichen Befragungen und Recherchen taucht ein Bild auf, auf dem der vermisste Iain Auld mit einem bekannten Konzeptkünstler namens David Greig in eindeutig verliebter Pose zu sehen ist. Dann berichtet eine ehemalige Bekannte, dass sie Iain nach seinem dubiosen Verschwinden auf der Straße gesehen habe. Immer wenn der Leser glaubt, nun sei er auf der richtigen Spur, ergeben sich neue Indizien und Verwicklungen. Verzwickt wird die ganze Geschichte durch inszenierte Selbstmorde, Identitätenklau, gefälschte Kunst und vor allem durch das langsam auftauchende Virus und den vollzogenen Brexit. Bei diesem Krimi muss man als Leser am Ball bleiben und immer mitdenken, denn ansonsten verliert man sehr schnell den Überblick. Val McDemids Krimis ist keine Lektüre für den Schlafzimmertisch, sondern absolut fordernd, auch durch die witzigen Dialoge, die aktiven, schlauen Frauen und die herrlich erfrischende Anbindung an die Gegenwart, denn immerhin hört Daisy am liebsten Billy Eilish.