Anja Goerz: Jakobs Schweigen, Deutscher Taschenbuch Verlag premium, München 2020, 301 Seiten, €15,90, 978-3-423-26258-3
„ Der Mann war tot.
Der Sohn war tot.
Die Tochter eine einzige alkoholkranke Unzuverlässigkeit. Die nur bei ihr blieb, weil es so schön bequem war. Und wenig kostete.
Der Enkel des Mordes verdächtigt.
Der Schwiegersohn hasste sie.
Ihre Freunde würden sich von ihr abwenden.
Was blieb ihr da noch?“
Es sind immer wieder Polizeiberichte, die Autoren zu fiktionalen Krimihandlungen inspirieren. Keine Frage, die Nachricht 2014 vom Tod eines Notars im noblen Westend in Berlin, der von seinem 16-jährigen Sohn erschossen wurde, blieb in Erinnerung.
Dora Ahlendorf kann nun endlich seit dem Tod ihres doch sehr konservativen Ehemannes ihren eigenen Interessen nachgehen. Sie pflegt einen Freundinnenkreis, geht in einen Lesezirkel und zum Schwimmen. Nach und nach will sie ihre Villa umgestalten. Die Jagdtrophäen ihres Mannes hat sie bereits entsorgt. Bremen ist keine große Stadt und Doras Ehemann, der als Rechtsanwalt einen guten Ruf hatte, legte größten Wert zumindest nach außen auf eine intakte Familie. Sohn Michael folgte dem Vater im Beruf und Tochter Kirstin studierte Medizin. Wie engherzig und diktatorisch auch seine Erziehung war, dass der Sohn homosexuell ist, konnte er nicht akzeptieren. Michael heiratet den modebewussten Journalisten David, sie lassen über eine Leihmutter ein Kind austragen. Mit Jakob ist das Glück perfekt, allerdings ohne Großeltern. Zu Kirstin hat Michael kein gutes Verhältnis, zumal sie durch ihre Alkoholsucht langsam abstürzt. Kirstin jedoch ist eifersüchtig auf den Bruder, der bei der Mutter, wie so oft, einen viel wichtigeren Platz einnimmt als die Tochter.
Alles bricht zusammen, als Michael in seiner Kanzlei erschossen wird. Eine Zeugin hatte Jakob angeblich gesehen, als er zum Tatzeitpunkt die Kanzlei verlassen hat. Er ist der Hauptverdächtige und schweigt, auch in der Untersuchungshaft. Dora kann es nicht fassen. Auch wenn ihr Ehemann seinen Enkel nie kennengelernt hat, hat Dora doch den Kontakt zu Michael und seiner Familie immer gesucht. Mit David jedoch hat sie sich nie verstanden. Dora ist überzeugt davon, dass ihr Enkel niemals den Vater erschossen hat.
Doch was hat sich wirklich im Innern der Kleinfamilie abgespielt? Hatten David und Michael doch mehr Probleme als sie wirklich wahr haben wollten? Wie schlecht war das Verhältnis von Michael und Jakob? Als Kind einer homosexuellen Beziehung wurde Jakob an seiner Schule nicht direkt ausgeschlossen, aber einen richtig guten Freund hat er nie gefunden. Eine Freundin schon. Lilly.
Aus unterschiedlichen Perspektiven, mal aus der von Dora, dann wieder Davids aber auch Jakobs Sicht, erzählt Anja Goerz von den Konflikten in der Familie.
Auf kursiv gekennzeichneten Seiten blickt die Autorin in die Vergangenheit zurück. In kurzen Szenen wird klar, welchen Leistungsdruck Michael auf seinen Sohn ausübt. Seine Erwartungen sind immens. Ohne es wirklich zu registrieren, klingt Michael genau so unbarmherzig und erzkonservativ wie sein Vater. David, der verständnisvollere von beiden, kann vieles abfedern. Michael erwartet exzellente schulische Noten und unterbindet alles, was Jakob Freude machen könnte. Er sperrt das Konto des Jungen und fordert Lilly auf, sich von seinem Sohn fernzuhalten. Als die ahnungslose Dora ihren Enkel einmal gefragt hat, was er sich wünscht, war die Antwort: eine Wohnung. Der offenbar auch psychopathische Vater scheint all seinen Frust über den unbeständigen und Luxus orientierten Lebenspartner, seine eigenen Arbeitsbelastungen und die peinliche Schwester auf den Sohn zu übertragen. Warum interessiert sich Michael so wenig für seinen Sohn? Warum wiederholt er die Verhaltensmuster seines doch nicht gerade geliebten Vaters? Welche Zwänge zerstören offensichtlich das Vater-Sohn-Verhältnis?
Alle Probleme in der Familie kulminieren. Doch sind sie wirklich so stark, dass ein Sohn aus Hass und Wut nach einer Waffe, auch Michael ist wie der Vater Jäger, sucht und wirklich auf den Peiniger schießt? Steckt hinter der Tat vielleicht doch ein anderer Grund? Hat der Tod des Vaters mit seiner Arbeit als Rechtsanwalt zu tun?
Durch den erinnerten einstigen Kriminalfall in Berlin ist die Spannung nicht sonderlich groß. Das WARUM ist daher eher von Interesse und hier scheint doch vieles zu konstruiert oder im wahren Leben eher anzutreffen, als man wirklich für möglich hält.