Emily Gunnis: Die verlorene Frau, Aus dem Englischen von Carola Fischer, Heyne Verlag, München 2020, 384 Seiten, €20,00, 978-3-453-27289-7
„Sogar jetzt, mehr als fünfzig Jahre später, bestimmt jene Nacht noch immer die Richtung, die Rebeccas und sein Leben nahm. Aber noch nie so sehr wie in der heutigen Nacht. Cecilia war an einer Psychose erkrankt. Ebenso Rebecca. Litt Jessie jetzt daran?“
Die 13-jährige Rebecca Waterhouse muss im Jahr 1960 mitansehen, wie ihr vom Krieg gezeichneter, zu Wutanfällen, Jähzorn und Gewaltausbrüchen neigender Vater Jakob ihre Mutter Harriet zu Tode prügelt. Danach erschießt er sich selbst mit einer Pistole. Rebecca hat ihren Vater erst im Alter von sechs Jahren kennengelernt. Er musste in einer psychiatrischen Anstalt verbleiben, da er nach seinem Dienst als Soldat im Krieg eine Paranoia vor den deutschen Feinden entwickelt hatte. Einst starb sein Freund vor seinen Augen. Alkoholabhängig und gewalttätig stellte er eine Gefahr für seine Umgebung dar. Rebecca fürchtet sich vom ersten Moment an vor dem Vater.
Immer im Zeitenwechsel erzählt die englische Autorin von 1945 bis 1960 und dann wiederum vom Jahr 2014. Aufgewachsen ist Rebecca bei der Familie Roberts, die auch bereits mit Harriet Waterhouse befreundet war. Allerdings wurde Rebecca 1960 in die Obhut von Ted Roberts gegeben, mit dem Harriet wohl mehr als befreundet war. Rebecca wächst mit Teds Sohn Harvey auf und wird mit ihm zusammen eine Tochter haben, Jessy.
Jessy jedoch liebt nur ihre Stiefmutter Liz, die vor zwei Jahren an Krebs verstarb. Rebecca hat eine weitere Tochter Iris. Sie wuchs mit Mutter Rebecca und Vater John auf, dieser verstarb allerdings.
Auf einer weiteren Erzählebene dreht sich alles um die wohlhabende Cecilia Barton, die einst mit Charles auf Northcote Manor lebte. Gegen alle Regeln der Gesellschaft freundete sie sich mit ihrer Kammerzofe Harriet an und sie pflegte auch ein gutes Verhältnis zu ihrem Mann Jakob. Allerdings und nun beginnen die Dramen, hat Jakob Cecilia vergewaltigt. Als sie schwanger wurde, erlitt sie eine Psychose floh mit dem Baby und Harriet rettete Rebecca.
Es dauert eine Weile, ehe die Leserin verstehen kann, in welchen Konstellationen die Figuren zueinander gehören. Die Handlung springt immer wieder von Harriets Tagebuch in die Gegenwart und zurück.
Im Jahr 2014 jedoch ist Jessy schwanger. Ihr Freund Adam, ein Reisejournalist, weilt in Nigeria und die Wehen setzen ein. Jessy ereilt nun wie Cecilia und Rebecca eine Psychose, in der die Mutter in den Wahn verfällt, dass jemand ihr Baby vergiften will. Jessys Kind ist dazu noch erkrankt, als Jessy aus dem Krankenhaus flieht.
Die Spannung und Dramatik dieser manchmal doch sehr konstruierten Geschichte beruht auf der Neugier der Leserin. Warum verhalten sich die schwangeren Frauen so seltsam? Wie kann es sein, dass Harriet nun Rebecca aufgezogen hat, obwohl sie nicht ihr Kind war? Warum kann Rebecca wiederum mit ihrem ersten Kind nicht zusammenleben? Wo ist Jessy und ihr Baby?
Und was ist in dieser Nacht 1960 wirklich passiert?
„Die verlorene Frau“ ist ein Spannungsroman vor dem Hintergrund der englischen Ständegesellschaft. Es geht um Krankheiten, wie der postpartalen Depression, die laut dieses Romans durchaus vererbbar ist. Allerdings spielen auch die Grausamkeiten des Krieges eine Rolle, die trotz Friedenszeiten die Familien zerstören. Harriet hat keine Wahl, sie kann ihren unberechenbaren Mann, der sie letztendlich töten wird, nicht verlassen. Einige Nebenhandlungsschauplätze und Ungereimtheiten lenken zeitweise etwas ab, aber klar ist, wie hemmend sich die Psychosen auf ein Mutter-Tochter-Verhältnis letztendlich auswirken.