James von Leyden: Schatten über Marrakesch, Aus dem Englischen von Jens Plassmann, Heyne Verlag, München 2020, 463 Seiten, €14,99, 978-3-453-42418-0

„Das gefiel ihr so an Marrakesch: Jeder, der über das notwendige Selbstbewusstsein verfügte, konnte sich für alles ausgeben, was auch immer er gerne sein wollte.“

Wer in Marrakesch seinen Urlaub verbracht hat, kehrt sicher mit ganz unterschiedlichen Eindrücke nach Hause zurück. War der eine beeindruckt von der quirligen, farbenfrohen Medina mit ihren exotischen Angeboten, den gut aufgelegten Händlern und ihrem Eifer Touristen anzusprechen und in die Handelshäuser oder auch nur Stände hineinzuziehen, so war der andere genervt von der Kommunikationsfreude der Einwohner Marrakeschs, den ständig um sie herum rasenden Mopeds, dem Gestank und Schmutz in den schmalen, überdachten Gängen und von der Umweltverschmutzung des gesamten Ortes, die man bereits aus dem Flugzeug über der Stadt wabern sehen kann. Mag es als Tourist ungewöhnlich sein, wenn man den Muezzin knarrend laut zum Gebet rufen hört, die Männer in ihren traditionellen Gewändern sieht und die Frauen eher im Hintergrund wahrnimmt, so bemerkt man doch in der Neustadt einen himmelhoch weiten Unterschied. Hier gibt es die üblichen Einkaufsmalls, Alkoholgeschäfte, Clubs und den ersehnten Freiraum.

Liest man jedoch den Kriminalroman von James von Leyden, dann öffnen sich viele verschlossene Tore, ob nun im moslemischen oder christlichen Teil der Stadt. Plötzlich läuft man im extrem heißen August zu Ramadan mit dem noch sehr jungen Ermittler Karim Belkacem durch die Straßen. Man erfährt, wie er lebt, wie er betet, was für Sorgen ihn umtreiben und wie schwer sein Stand als Berber ist. In der Polizeistation werden ihm immer die unbedeutenden Fälle zugeschoben. Aktuell soll er sich um Produktfälschungen kümmern. Aber als ihn die Leute zu einem wahren Tatort bringen, übernimmt den Fall sofort sein fauler Kollege Aziz. Vor der Moschee Sidi bel Abbés steht ein Karren, auf dem die junge, getötete Amina Talal in einem roten Kleid liegt und neben ihr ein Schild, dass behauptet sie sei eine Hure. Karim kennt Amina, war mit ihr sogar kurzzeitig verlobt, bis sich die Väter der Verlobten zerstritten.

Natürlich ist Karim viel zu nah dran und doch kann er es, zum Ärger seine Vorgesetzten, nicht lassen zu ermitteln. Jeder weiß, dass Amina kein leichtes Mädchen war. Sie hatte eine Ausbildung absolviert und wollte gern eine gute Arbeit in einem Hotel finden.
Parallel zu Karims Detektivarbeit erzählt der englische Autor von einem europäischen Pärchen, dass
seit zehn Jahren in Marrakesch lebt. Kay stammt aus England und betreibt ein kleines, nicht mehr ganz so erfolgreiches Hotel, Sébastien ist der gestresste Bauleiter des Katarers Mohammed, der in kürzester Zeit ein Luxushotel eröffnen will. Mit beider Beziehung steht es nicht zum Besten.

Karim jedenfalls plagen finanzielle Sorgen, denn seine Schwester will heiraten. Er als Familienoberhaupt, der Vater ist verstorben, muss diese nun ausrichten. Zu seinem Ärger findet er seinen künftigen Schwager mehr als unsympathisch und finanziell ist dieser auch noch viel besser gestellt als Karim mit seinem mageren Polizistengehalt. Als Zweitjob arbeitet Karim nun des Nachts als Wächter auf einer Baustelle. Gefahren wird er von dem schlitzohrigen Taxifahrer Rachid, der so gern Bollywood-Musik hört und ziemlich viel herumkommt.

Im Fall Talal hat sich inzwischen so einiges getan. Es scheint so zu sein, als hätten die männlichen Familienmitglieder das ungehorsame Mädchen gerichtet. Ein Ehrenmord. Verhaftet werden auch sofort der bärtige Bruder und der Vater von Amina. Aber Karim weiß, dass der Vater niemals sein Kind umbringen würde. Außerdem kann er weder lesen noch schreiben. Das besagte Schild haben die Polizisten kaum beachtet. Auch die Obduktion lässt auf sich warten. Karim staunt nicht schlecht, als er erfährt, dass Amina noch Jungfrau war.

Spannend, gut recherchiert, tragisch und tiefgründig ist dieser durchaus verzwickte Mordfall, aber viel interessanter ist der Einblick in die unterschiedlichen Lebenswelten der einzelnen Protagonisten, ob es nun um Karim geht, seine Familie oder die Europäer in Marrakesch, die immer noch glauben, sie könnten sich über die hiesigen Einwohner erheben. Es geht wie immer um Doppelmoral und in gewisser Weise auch den gelebten Glauben.
Auch wenn es zu Beginn so scheint, so charakterisiert James von Leyden die Polizisten nicht als schwarz-weiß Figuren, sondern zeigt sie in ihrer ganzen Ambivalenz.

Ein sehr empfehlenswerter Krimi! Keine Frage, zu gern würde man mehr über Karim und sein Liebes- wie Arbeitsleben in Marrakesch erfahren!