Elizabeth Strout: Die langen Abende, Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth, Luchterhand Literaturverlag, München 2020, 349 S., € 20,00, 978-3630-87529-3
„Sie setzte sich Andrea gegenüber, obwohl sie aus dem Ausdruck des Mädchens Ablehnung herauszulesen meinte. Aber Olive war alt, sie hatte zwei Ehemänner begraben, was scherte sie so etwas? Keinen Pfifferling scherte es sie.“
Mit dem Roman „Olive Kitteridge“ gewann die US-Amerikanerin Elizabeth Strout 2009 den renommierten Pulitzer-Preis. Elf Jahre später schreibt sie eine Fortsetzung.
Die ziemlich korpulente Olive Kitteridge ist als Mathematiklehrerin längst pensioniert, sie hat den fetten, tief gefallenen Jack Kennison, einst Professor in Harvard, geheiratet. Acht Jahre haben die beiden mal mehr mal weniger harmonisch miteinander gelebt. Zu alt, um sich noch etwas vorzumachen, sagt Olive Kitteridge allen auf den Kopf zu, was sie denkt. Dabei kann sie so widersprüchlich sein, dass man beim Lesen nicht schlau aus ihr wird. Mal ist sie extrem rücksichtslos, hartherzig, geizig, unsympathisch, aber dann auch wieder mitfühlend, sensibel und liebenswert burschikos. Auch Jack hat sich entschlossen, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Er ruft seine lesbische Tochter Cassie an und outet sich als „egozentrisches Arschloch“. Die Sorgen um die Kinder verbinden Jack und Olive und die Liebe zu den langen Abenden in Maine. Als Olives Sohn Christopher endlich mit seiner neuen Familie von New York nach Maine, Crosby, reist, benimmt sich Olive unglaublich gemein und lieblos, was sie selbst gar nicht bemerkt. Sie grenzt die beiden Kinder, die Christophers Frau Ann in die Ehe mitgebracht hat, einfach aus. Sie beachtet und beschenkt ihren Enkelsohn Henry, benannt nach ihrem ersten Mann. Das zweite Enkelkind ist noch ein Baby und in Olives Armen äußerst unglücklich. Als Olive sich endlich traut ihrem Sohn zu sagen, dass sie heiraten will, flippt dieser total aus. Ann weist ihn darauf hin, dass er sich nicht so kindisch benehmen soll und Olive erkennt, wie viele Gemeinsamkeiten sie mit ihrer Schwiegertochter, die sie doch eigentlich auch nicht mag, verbinden.
In Innen- und Außenperspektiven betrachten unterschiedliche Figuren Olive in all ihrer Widersprüchlichkeit. Um nicht nur Olives Leben zu umkreisen, öffnet Elizabeth Strout im Küstenort viele Türen und lässt den Leser an den Schicksalen der Bewohner mit ihren Unzulänglichkeiten und Schwächen teilhaben. Es gibt wenig zu lachen, ganz im Gegenteil, die meisten Familiengeschichten erzählen von Einsamkeit, Demenz, Verletzungen, Enttäuschungen, Benachteiligungen und auch innerer Armut.
Mal taucht Olive in den Geschichten auf, mal stehen die Personen für sich. Gegen das Leben in der Provinz setzt die Autorin die Weltstadt New York. Leben in Maine die offenbar geistig umnachteten Leute, die den gegenwärtigen Präsidenten wählen, was Olive auf die Palme bringen kann, so kommt aus New York, z.B. der reiche Bruder Jim mit seiner Frau Helen, die zu viel trinkt, und in der beengten, armseligen Wohnung von Bob und Margaret stürzt und sich den Arm und zwei Rippen bricht. Nach diesem Besuch wird nur noch Bob einmal im Jahr seinen Bruder Jim besuchen.
Zeitlich lässt die amerikanische Autorin die Jahre vergehen und auch Olive wird älter, aber nicht weiser. Sie erlebt die peinliche Begegnung zwischen Jack und seiner viel jüngeren einstigen Mitarbeiterin an der Universität, die durch ihn Karriere machen wollte. Als sie nicht das erreichen konnte, was sie anstrebte, hat sie Jack des sexuellen Missbrauchs bezichtigt und damit seine berufliche Laufbahn und erste Ehe zerstört. Olive kann nicht an sich halten und sagt, was sie über diese Frau denkt. Nach diesem Gespräch hasst Jack nicht nur sich selbst, sondern auch seine zweite Frau.
Es bleiben viele Leerstellen, die der Leser mit eigenen Gedanken über die Menschen in Maine füllen kann. Die Weite des Meeres öffnet nicht automatisch alle Herzen, aber der Ort kann Heimat werden.
Wortkarg, zänkisch, fehlbar und nachtragend sind viele Figuren in diesen so eindringlichen, wie realistischen Geschichten. Und auch Olive muss die Wahrheit ertragen, nachdem sie eine der wenigen berühmten Menschen aus Maine, die sogar in ihrer Klasse war, getroffen hat. Andrea L’Rieux ist nicht nur eine bekannte Lyrikerin, sie hat sogar den letzten Präsidenten getroffen.
Als Olive ein Gedicht über sich zu lesen bekommt, stockt ihr der Atem.
Gemein können auch andere sein.
Ohne Beschönigungen schaut Elizabeth Strout als genaue Erzählerin auf Lebenslügen, Zweifel und
Leidensfähigkeit. Sie zeigt, wie ihre Figuren aufrecht mit dem Schicksal ringen oder sich einfach aus dem Staub machen.