Mark Billingham: Die Schande der Lebenden, Aus dem Englischen von Joachim Körber, Atrium Verlag, Zürich 2016, 448 Seiten, €19,99, 978-3-85535-010-0
„Die Angst davor, zu zeigen, wer man wirklich ist, führt zu diesen ganzen Lügen.“
Fünf unterschiedliche Klienten treffen sich jeden Montagabend im Londoner Wintergarten des Therapeuten Tony De Silva. Alle fünf haben eine schwere Zeit hinter sich, sie waren abhängig von Drogen, Alkohol oder Medikamenten und sind jetzt clean. Da ist die reiche Diana, die zu viel Wein trinkt, da sie ihren Mann an einen jüngere Frau verloren hat. Dianas Tochter hasst sie für alle Veränderungen. Chris ist ein unsympathischer Stricher, der so wie Heather lang gedrückt hat. Caroline ist stark übergewichtig und leidet an Tablettensucht. An Robins Sucht nach Medikamenten als angesehener Arzt ist seine Ehe kaputtgegangen. Seine Frau hat sich alles, was das Paar angeschafft hatte, an sich gerissen und sie hat ihn gnadenlos erpresst. Hinter dieser ganzen Geschichte steht allerdings ein tragisches Ereignis, über das Robin nicht sprechen kann. Klar ist, alle fünf sind einsame Menschen. Eine wichtige Regel der Gruppe ist die absolute Verschwiegenheit. Nichts von dem was untereinander gesprochen wird, darf nach außen dringen. Nach den Treffen am Montagabend gehen alle ihrer Wege oder sitzen noch im Pub zusammen.
Kaum hat sich der Leser ein Bild von allen Beteiligten gemacht, taucht eine Leiche auf. Nach 14 Tagen ist diese schwer zu identifizieren. Die Ermittlerin Nicola Tanner, die bereits 20 Jahre im Dienst ist und für ihre Korrektheit bekannt, übernimmt den Fall. Seltsamerweise ist niemand vermisst und es dauert eine Weile, bevor die Identität von Heather festgestellt werden kann.
Zeitversetzt berichtet Mark Billingham nun von den letzten Tagen vor dem Mord an der jungen Frau. Er umkreist seine Figuren und es stellt sich heraus, dass nicht nur einer oder eine aus der Gruppe Grund gehabt hätte, Heather etwas anzutun.
Tonys Idee, dass jeder Klient eine Episode aus seinem Leben erzählt, nach der er sich maßlos geschämt hat, offenbart viel über das Suchtverhalten jedes einzelnen.
Erschwerend kommt bei der Polizeiarbeit hinzu, dass Heather kurz vor ihrem Tod eine Geburtstagsparty mit allen Leuten aus der Gruppe gefeiert hat. Fingerabdrücke sind von allen vorhanden, einschließlich Tony, der nur eine Torte gebracht hatte.
Im Laufe des Puzzles stellt sich heraus, dass Chris pausenlos lügt und sich am besten mit Heather verstanden hat. Robin wird durch Briefe um Geldsummen erpresst. Sollte er nicht zahlen, würde der Briefeschreiber die Ärztekammer über seine ehemalige Drogensucht informieren. Robin verdächtigt erst Chris, den er abgrundtief für seine schmutzigen Bemerkungen und seine Sucht nach Aufmerksamkeit hasst. Dann jedoch rückt Heather, die auch noch spielsüchtig ist, in den Fokus.
Caroline gelangt zuletzt in die Gruppe. Sie fällt durch ihre windige Art auf, sich mit allen Leuten irgendwie anzufreunden. Diana nervt durch ihr Selbstmitleid und Tony kommt trotz ethischer Grundsätze Heather viel zu nahe und wird ebenfalls erpressbar.
Seit längerem zieht Tonys Frau ihn mit Heathers offensichtlicher Verliebtheit auf. Tonys Tochter Emma raucht offenbar Gras und scheint eine Essstörung zu haben, doch der Therapeut im Haus versagt.
Nach und nach gelangt Nicola Tanner, trotz Redeverbot der Klienten, hinter das, was sich zwischen den einzelnen Personen abgespielt hat. Die Geheimnisse jedes einzelnen offenbaren die Abgründe, mit der jede Figur klarkommen muss. Heathers Geschichte über ihr Schamgefühl öffnet fast allen die Augen.
Mark Billingham versteht es, wie in seinen Romanen zuvor, das Interesse des Lesers zu wecken, indem er von ganz normalen Menschen erzählt, deren Schwächen in extreme seelische Tiefs geführt haben und mit denen sie nun umgehen müssen. Niemand scheint auf den ersten Blick sympathisch und doch empfindet man im Laufe der Geschichte auch Empathie. Der Autor braucht keine Gewalt, um Spannung zu erzeugen. Keiner aus der Gruppe glaubt an die Schuld des anderen und doch schwingt immer Argwohn mit. Gekonnt spannend ist die Erzählweise von Mark Billingham, der zwischen Hier und Jetzt und Damals hin- und herpendelt, zwischen therapeutischen Gruppensitzungen und dem wahren Leben wie den Ansichten und Verhaltensweisen seiner Protagonisten.
Der Clou – zwar weiß man als Leser am Ende, wer hinter dem Mord und den Briefen steckt, doch aufgeklärt ist der Fall nicht.
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