Joyce Carol Oates: Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe, Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit, Carl Hanser Verlag, München 2014, 269 Seiten, €15,90, 978-3-446-24632-4

„Sie sah aus, als müsse sie sehr, sehr glücklich sein. Aber der Schein trog.“

Sie sind Schülerinnen der Quaker Heights Day School, einer Einrichtung, die Wert auf eine hochkarätige Erziehung in einer Umgebung der Gleichberechtigung legt. Und doch ist es in New Jersey nicht anders als anderswo in den USA, denn auch hier herrscht eine soziale Hierarchie, eine fest etablierte gesellschaftliche Pyramide, die die Schüler von beliebt über Mitte der Mehrheit bis Versager abstuft. Aller Schüler der Quaker Heights verfügen über gut verdienende Eltern und fühlen sich in gewisser Weise gegenüber den Jungen und Mädchen an staatlichen Schulen privilegiert.

Die mittlerweile 76-jährigen Joyce Carol Oates beschäftigt sich in ihrem neuesten Jugendbuch mit den unterschiedlichen Lebenszielen und -ansichten dreier 17-jähriger junger Frauen. Alle drei sind locker befreundet und absolvieren ihr letztes Jahr an dieser Schule. Merissa als Vorzeigeschülerin hat endlich die Zusage für die Brown University erhalten. Als das perfekte Mädchen ihres Vaters, der beruflich oft auf Reisen ist, wurde ihr die Hauptrolle im neuesten Schulstück zugesprochen, sie arbeitet in der Redaktion für die Jahrgangsbücher und spielt in der Hockeymannschaft. Mit ihrem Porzellanpuppengesicht und ihrer schlangen Figur zieht sie die Blicke der Jungen an, ist beliebt und offensichtlich glücklich.

Doch Merissa verbirgt wie alle drei Protagonistinnen Geheimnisse, Dinge, die sie nie, wirklich nie erzählen könnte. Um dem Druck der Anforderungen Stand zu halten, ritzt sich Merissa kleine Wunden in den Körper. Der kurzzeitige Schmerz lässt sie sich selbst spüren. Geschickt verdeckt sie die Wunden mit Pflastern, damit nur nicht das Bettzeug über Nacht schmutzig wird. Merissa tut alles dafür, damit ihr Vater sie liebt. Durch Leistung gewinnt sie seine Aufmerksamkeit, obwohl er, wenn sie ehrlich ist, sie kaum noch wirklich wahrnimmt. In der Ehe ihrer Eltern bröckelt es bereits lange Zeit und Merissas Vater zieht aus. Merissas Mutter, die offensichtlich keinem Beruf nachgeht, konzentriert sich auf die Tochter und ihre Beruhigungspillen. Zwischen Mitleid und Verachtung schwanken die Gefühle Merissas für die Mutter, die sie auch noch auffordert, nicht zu weinen, wenn der Vater mit ihr spricht. Als müsse sie auch noch die Gefühle der Tochter reglementieren und dem Ehemann bis zuletzt alles recht machen. Längst ist klar, dass der Vater eine andere Frau hat und mit seinen Gedanken weit fort lebt. Merissas Reaktion auf all diese privaten Sorgen, die sie ihren Freundinnen nicht mitteilt, ist Leistungsverweigerung in der Schule. Sie will nicht mehr die Hauptrolle spielen, sie gibt die Hausaufgaben nicht mehr pünktlich ab, sie funktioniert nicht mehr tadellos und glaubt, damit dem Vater eins auszuwischen.

Innerlicher Halt für Merissa ist ihre Freundin, die kleine, rothaarige, absolut respektlose Tink, die sich nie etwas gefallen lassen würde. Nur Tink ist vor einigen Wochen verstorben. Eine letzte SMS an alle Freundinnen liest sich wie ein Abschied und doch bleibt die Frage bis zum Ende, ob es wirklich Selbstmord war. Tinks Mutter, eine bekannte Fernsehschauspielerin, ist nach dem Tod der Tochter nicht bereit mit den Freundinnen zu sprechen. Tink jedenfalls ist nicht die perfekte Tochter, sie lehnt sich gegen die Mutter auf. Als Kinderstar einst berühmt, immerhin spielte sie mit der Mutter über mehrere Jahre in einer erfolgreichen Serie, verweigert Tink bis hin zu ihrem eigenen Namen alles, was andere ihr zumuten wollen. Andererseits lässt sie sich auf niemanden ein, sie bleibt unverbindlich bis zum Schluss. Ihr Charisma jedoch scheinen die anderen Mädchen nach wie vor zu vermissen. Marissa und auch Nadja sprechen mit Tink, glauben sie zu hören und benötigen ihren Zuspruch. Auch Nadja hütet ihre Geheimnisse und eine tiefe innere Sehnsucht nach Liebe und Zuneigung. Ein abwesender Vater und eine um Jahre jüngere dünne Stiefmutter bereiten der etwas fülligen Nadja Kummer. Als sich ihr junger Lehrer, Mr Kessler, dem Mädchen freundlich zuwendet, sie aus ihrer unsicheren Kleinmädchenart herausholen will, verwechselt Nadja Freundlichkeit mit Liebe. Einst hatte die Mutter sie verlassen. Dass sie vor ein paar Jahren gestorben ist, hatte ihr niemand mitgeteilt. In ihrer naiven Art glaubt Nadja nun, dass sie Mr Kessler etwas schenken sollte, zumal er seinen Geburtstag erwähnt hatte.
Unbedarft und irgendwie weltfremd schenkt Nadja anonym Mr Kessler einen kleines originales Gemälde von Kandinsky. Dieses Gemälde ihres Vaters würde, so Nadjas Meinung, niemand vermissen.
Die Katastrophe ist vorprogrammiert. Nadja duckt sich jedoch nicht weg, sondern steht ehrlich zu allen Problemen, die sie dann mit Marissa gemeinsam lösen wird.

Es sind die Geheimnisse, die zwei oder drei Dinge, die die Mädchen sich nicht anvertrauen können, die ihnen das Leben aber schwer machen. Die Figuren unterscheiden sich sehr voneinander, jedes Mädchen ist auf dem Weg zu sich selbst, alle machen schmerzliche Erfahrungen und doch bleiben sie mit ihren Konflikten und Fragen allein. Am einsamsten war wahrscheinlich Tink. Hier bleibt viel Raum zum Nachdenken für die Leserinnen, denn diese wird dieser Roman auch nach dem Lesen noch lang beschäftigen.

Bei ihrer Vorliebe gerade für Jugendthemen schreibt Joyce Carol Oates als gute Beobachterin und Schriftstellerin wirklichkeitsnah und empfindsam. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie weit diese Autorin von der Generation, die sie offenbar beschäftigt, allein an Jahren entfernt ist. Oder auch nicht.