Yrsa Sigurdardóttir: Rauch, Aus dem Isländischen von Tina Flecken und Anika Wolff, btb Verlag, München 2024, 400 Seiten, €18,00, 978-3-442-76243-9

„Wie immer vertrat Ragga die Stimme der Vernunft. Sigga sackte in sich zusammen wie eine Marionette, deren Fäden losgelassen wurden. Ari war immer noch sauer, und Leifur schien komplett die Sprache verloren zu haben. Trausti fragte sich, ob er halluzinierte. Ob das alles gar nicht wirklich geschah. Vielleicht sollte er so reagieren wie seine Oma, wenn etwas Schlimmes passiert war: Vielleicht sollte er einfach fragen, ob jemand Hunger hatte.“

Nach der Zeit im Studierendenheim hatten sich alle fünf Freunde aus den Augen verloren. Doch nun sieben Jahre später treffen sie sich, um an der Beerdigung ihrer gemeinsamen Freundin Gugga teilzunehmen. Verstorben ist sie angeblich an Bauchspeicheldrüsenkrebs und sie hatte Ragga, Trausti, Sigga, Ari und Leifur inständig gebeten, sie im Krankenhaus zu besuchen. Doch niemand hatte Zeit. Alle Freunde sind nun um die dreißig und hoffen auf die großen Karrieren: Ari als Banker, Sigga als Anwältin in einer angesagten Kanzlei und Ragga als Maschinenbauingenieurin. Nur Leifur ist nicht froh in seinem Beruf als Informatiker und Trausti lebt in den USA, um dort seine Facharztausbildung zu beenden. Nach Guggas Tod reisen nun alle reumütig auf die Westmännerinsel.
Yrsa Sigurdardóttir erzählt zeitlich versetzt aus der personalen Sicht der Pathologin Iðunn und aus der Perspektive des ruhigen, fast unscheinbaren Trausti. Iðunn hasst es, dass sie im Januar bei stürmischem Wetter Reykjavík verlassen muss. Immerhin wohnt auf der Insel ihr verhasster Vater mit seiner neuen Familie. Als reicher Reeder hat er sich nie um seine Tochter gekümmert. Als Vierzigjährige hat sie nicht vergessen, wie abweisend ihr Vater sich ihr gegenüber verhalten hat, als sie eine junge Frau war. Aber auch Iðunn ist wie ihr Vater nicht an Gesellschaft interessiert, ziemlich schroff und verliebt in die Arbeit.
Auch wenn die Freunde zu einer Beerdigung angereist sind, freut sich Trausti auf das lange Wochenende. Parallel zu dieser Handlung entdeckt eine Frau mit Hund am Meer etwas Verdächtiges. Ásta Jons sieht Rauch und später einen Menschen, der auf einem Scheiterhaufen verbrennt. Gleich in der Nähe hockt leblos eine weitere Person. Völlig hektisch springt Ásta in ihr Auto, verkennt die glatte Straße und verunglückt.
All diese dramatischen Geschehnissen ereignen sich durch die Anwesenheit der Freunde auf der Insel. Die Lesenden jedoch erfahren immer mehr als die Polizei und die Clique. Durch diesen Wissensvorsprung entsteht ein unheimlicher Sog, der die Lesenden dazu antreibt, herauszufinden, wie es zu den Geschehnissen kommen konnte, deren Ausgang sie bereits kennen, z.B. dass doch jemand bei Gugga im Krankenhaus war oder wer die sitzende Tote ( Ragga ) ist oder warum Leifur mit einem Gürtel ermordet wird. Klar wird auch, dass die Freundesgruppe seit sieben Jahren ein grausiges Geheimnis hütet. Als sie noch im Studierendenheim lebten, gab es einen Abend, an dem alle sehr betrunken waren. Nach der Party war ihre Freundin Guðbjört verschwunden. Auch wenn Gugga und die fünf Freunde verdächtigt wurden, nie konnte die Polizei herausfinden, was eigentlich in dieser Nacht geschehen ist. Zu Beginn könnte man glauben, dass Guðbjört die Frau auf dem Scheiterhaufen sein könnte. Doch sie ist es nicht. Doch wer ist die Frau, die die Freunde nach Guggas Tod in ihrem Keller finden? Warum ist ihr Tagebuch verschwunden? Warum ist der Abend im Studierendenheim so schief gelaufen und warum hatten alle diese Halluzinationen und können sich nicht mehr richtig erinnern, was eigentlich geschehen ist?
Immer wieder erhalten die Freunde in ihrem noblen Quartier Drohanrufe, die sie zuerst kaum verunsichern, die aber immer hässlicher werden.
Und dann muss sich Iðunn auch noch mit ihrer aufdringlichen Halbschwester Alexandra herumärgern, die unbedingt mit ihr nach Reykjavík reisen und bei ihr, der Eremitin, wohnen will.

In dieser Geschichte spielen harte Drogen eine besondere Rolle, aber auch Alkohol, Zyankali und völlig falsche Entscheidungen. Am Ende wird nur Trausti wohlbehalten und voller Angst im Flugzeug in die USA sitzen.

Wer einen Thriller, der in der rauen Landschaft der Westmännerinsel spielt, lesen möchte, ist bei Yrsa Sigurdardóttir genau richtig. Mit immer neuen dramatischen Wendungen und Leichen, die die Pathologin, da sie durch das Wetter auf der Insel gefangen ist, sozusagen mit den Werkzeugen aus dem Baumarkt sezieren muss, hält die Autorin die Lesenden in Atem und erst wenn die letzte Seite umgeblättert ist, kann jeder wieder in den normalen Alltag zurückkehren.