Paula Hawkins: Wer das Feuer entfacht – Keine Tat ist je vergessen, Aus dem Englischen von Christoph Göhler, Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe, München 2021, 412 Seiten, €20,00, 978-3-7645-0782-4
„Miriam war bewusst, dass sie den Tick, Andenken zu sammeln und sich mit deren Hilfe in wichtige Augenblicke zurückzuversetzen, mit Psychopathen und Serienmörder gemeinsam hatte, was ihr durchaus Sorgen bereitete, aber tatsächlich, glaubte sie, hatte jeder Mensch seine monströsen Momente, und diese Objekte halfen ihr, ihrem wahren Ich treu zu bleiben, jenem Monster, zu dem sie sich selbst gemacht hatte.“
Die fünfundzwanzigjährige Laura Kilbride benimmt sich mehr als seltsam. Sie hinkt etwas, wird schnell aggressiv, beißt auch mal zu, ist sich ihres Zustandes bewusst und entschuldigt alles mit einem schweren Unfall, den sie als Zehnjährige erleiden musste. Ein Mann hatte sie mit dem Auto angefahren und Fahrerflucht begangen. Vier Jahre später wird Lauras Mutter diesen Mann heiraten, denn es war ihr Liebhaber, der schnell das Haus verlassen musste. Ein Verrat, den Laura nie verzeihen wird.
Jede Figur in Paula Hawkins Roman trägt physisch oder auch psychisch eine schwere Last mit sich herum. Als nun auf einem Londoner Kanalboot Daniel Sutherland ermordet wird, gerät Laura schnell ins Visier der Polizei. Sie wurde von Miriam Lewis, einer ungeselligen, äußerlich eigenartig aussehenden, übergewichtigen Fünfzigjährigen, beobachtet. Miriam findet Lauras Hausschlüssel auf dem Boot, als sie den Toten entdeckt. Daniel ist der Sohn von Angela Sutherland, die vor Kurzem bei einem Unfall gestorben ist. Ihre Schwester Carla Myerson hatte kaum Kontakt zu ihrer Schwester und das hatte seinen Grund. Als Angela auf Carlas dreijährigen Sohn Ben vor gut fünfzehn Jahren aufpassen sollte, kam dieser bei einem Sturz ums Leben. Eine Tragödie, die Carlas Mann Theo nie verwinden konnte. Angelas Verhältnis zu ihrem eigenen Sohn Daniel, der ein begabter Zeichner war, war mehr als zerrüttet, zumal sie oft zum Alkohol griff. Theo ist Schriftsteller, der nach dem Tod des Sohnes nicht mehr schreiben konnte. Doch dann veröffentlicht er einen Roman mit dem Titel „Nur eine kam nach Hause“, nachdem er Miriam, die in einer Buchhandlung arbeitet, getroffen hatte. Sie hatte ihm ihre Aufzeichnungen gegeben, die er begutachten sollte, wozu es nie kam. Miriam weiß, dass sie es nie mit Theos Anwälten auf sich nehmen könnte. Die Geschichte, die sie aufgeschrieben hatte, war ihre eigene. Sie ist die eine, die nach einem Ausflug mit der fünfzehnjährigen Lorraine, lebend zurückgekehrt ist.
Und dann ist da noch Ingrid Barnes, eine achtzigjährige Frau, der Laura bei ihren Einkäufen hilft. Ingrid war mit Angela befreundet und reagiert auf Carlas Anwesenheit im Haus der Schwester eher ängstlich.
Jeder hat mit jedem in irgendeiner Weise zu tun, und jeder stand direkt oder nur unmittelbar mit dem ermordeten Daniel in Kontakt. Doch niemand kannte den jungen Mann wirklich. Eingewoben in die Handlung sind auf einer zweiten Ebene Auszüge aus dem Manuskript „Nur eine kam nach Hause“. Es gibt Anspielungen auf bekannte Autoren wie Sally Rooney und immer wieder Verweise aufs Schreiben.
In Rückblenden wird erzählt, aber auch aus der Sicht von Laura, die besonders gern die ermittelnden Polizisten beschreibt. Umkreist werden Fragen von Schuld, aber auch Vergebung.
Letztendlich lösen sich alle Traumata, der wirklich plastisch dargestellten Figuren in realen wie überzeugenden Handlungssträngen auf.
Keine Frage, dieser absolut spannende Krimi ist wie gemacht für eine Serie bei HBO oder Netflix. Man sieht die gebrochenen, fiktiven Figuren vor sich, leidet mit ihnen mit und will doch wissen, wer nun Daniel so sehr gehasst hat, dass er sterben musste.