Marijke Schermer: Unwetter, Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers, Kampa Verlag, Zürich 2019, 187 Seiten, €20,00, 978-3-311-10010-2
„Ihre Stimme will nicht mehr durch die Kehle hindurch. Sie versucht, durch die Ohren zu atmen. Könnte sie jetzt erzählen, was sie damals nicht erzählt hat, als wäre es gerade erst passiert? Könnte sie die dazwischenliegende Zeit einfach verleugnen, weil ihr die gesamte vergangene Zeit entschwunden zu sein scheint? Weil sie erst jetzt, zum ersten Mal jemandem erzählen möchte, wie es war, als sie dachte, sie würde sterben?“
Emilia und Bruch sind seit gut zwölf Jahren zusammen, sie haben zwei Kinder, Leo und Osip, und sind glücklich. Unweit von Amsterdam entfernt leben sie abgeschieden in einem alten Haus im Deichvorland. Bruch arbeitet als Arzt und Emilia seit dem Ende ihres Soziologiestudiums mit einer Gruppe von Leuten. Sie verbringt Zeit zu Hause und ihm Büro.
Aus der Sicht eines personalen Erzählers schaut der Leser auf Emilias Leben und mitten in diese Beschreibungen hinein platzt eine Erinnerung, eine Erinnerung an eine extreme Gewalterfahrung. Emilia schaut auf die Zeit ohne Kinder zurück, auf das erste Kennenlernen, die ersten Stunden und Tage mit Bruch, ihrer beginnenden Liebe. Zu gern erzählen die beiden anderen Paaren, denen sie begegnen von dieser ersten Zeit. Emilia hat sich gute drei Monate von einem Tag auf den anderen zurückgezogen und Bruch im Ungewissen gelassen. Warum sie das getan hatte, wurde nie geklärt.
Der Leser weiß es, sie wurde überfallen, brutal zusammengeschlagen und vergewaltigt. Mit Mühe konnte sie sich ein Taxi rufen und verbrachte nach der polizeilichen Anzeige eine Woche im Krankenhaus. Erst als sie innerlich langsam wieder zu sich gekommen war, konnte sie den Kontakt zu Bruch wieder aufnehmen. Dieses lange Schweigen, um der Wut oder auch falschem Mitleid oder Vorsicht seitens des Partners zu entgehen, scheint nun in eine schwere Depression umzuschlagen. Immer öfter fragt sich Emilia, warum sie Bruch nicht eingeweiht hat, warum er nicht nachgefragt hat.
„Später, dachte sie, wenn alles normal geworden ist, wenn wir einander kennen und mich das, was geschehen ist, in seinen Augen nicht mehr beschmutzen kann, dann erzähle ich es.“
Aber dieser Augenblick tritt nie ein. Der Alltag, die Kinder, die Arbeit, der neue Wohnort am Fluss überschwemmt das Erlebte, glaubt Emilia, bis es wieder hochkommt und einfach nicht vergessen werden kann.
Emilia erinnert sich an die Krankheit ihrer Mutter, die Apathie ihres Vaters, mit dem sie keinen Kontakt mehr hat. Nur zu ihrem Bruder Jacob besteht ein inniges Verhältnis, auch ihr Bruder Viktor ist ihr wichtig. Mit Jacob kann sie alles besprechen, er ist von Bruch zu Beginn nicht begeistert.
Emilia schluckt Valium und ist nicht mehr sie selbst. Sie schlägt auf Bruch ohne jeglichen Grund ein, sie hat sich nicht mehr unter Kontrolle. Sie sucht pausenlos nach Auswegen aus ihrem eigenen Dilemma. Noch ein Kind wäre möglich oder die Familie lebt in einem anderen Land…..
Bruch weiß, dass etwas nicht stimmt. Mit Emilias Gefühlsausbrüchen und Schwankungen zieht ein verheerende Wetterfront auf, es besteht die Gefahr, dass das Land überschwemmt wird.
Bruch will mit allen Mitteln, die Kinder sind bei Freunden, sein Haus und Land schützen. In all diesem persönlichen Chaos bricht alles in Emilia auf und mündet in einem katastrophalen Gespräch mit Bruch.
Mit langsamem Unbehagen liest man diese tragische Geschichte, denn Emilias Schweigen überschattet ihr glückliches Familienleben mit Freunden und in der Natur. Manche Sätze in Marijke Schermers Roman muss man sich unbedingt anstreichen, so auch diesen:
„ Der Erfolg einer Ehe besteht darin, dass man die Haushaltsführung des anderen erträgt.“
Und doch, bis zum Ende und in einem Zug muss man diese Geschichte einer Ehe durchlesen!
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