Benny Lindelauf: Unsere goldene Zukunft, Aus dem Niederländischen von Bettina Bach, Bloomsbury Kinder & Jugendbücher, Berlin 2012, 464 Seiten, €16,90, 978-3-8270-5480-7
„Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nur, dass ich mir wünschte, wir hätten das alles nicht erlebt. Und dass ich für den Rest meines Lebens auf eine Weise mit ihr verbunden sein würde, auf die ich nicht einmal mit Müllche oder Ness verbunden war. Ob ich nun wollte oder nicht.“
Das Kinderbuch „Das Gegenteil von Sorgen“ erschien im Jahr 2008 und landete als Nominierungstitel auf der Liste für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Bereits in dieser Geschichte erzählte der niederländische Autor vom Leben der Großfamilie Boon im Jahr 1937. Ein Jahr später setzt die Fortsetzung ein.
Das Leben der Großfamilie ist weiterhin nicht leicht. Da ist der gutmütige, experimentierfreudige Vater mit seiner kleinen Zigarrenmanufaktur, die wenig einbringt, die vier älteren Brüder, Omm Maij, die zwar nicht kochen kann, aber dafür Geschichten erzählen und die Schwestern Fing ( 12) , Müllche (11) und Ness (10). Die Familie Boon wohnt in Limburg nicht weit von der deutschen Grenze entfernt, in einem kleinen Häuschen gleich am Friedhof. Fing ist die Erzählerin und mit ihren Augen verfolgt der Leser die Ereignisse bis zum Jahre 1943.
Fing befindet sich an der Schwelle zwischen Kindheit und Adoleszenz, sie spürt die Blicke der Jungen, muss viel zu viel Verantwortung für die temperamentvolle Müllche und die behinderte Ness übernehmen und hofft auf eine „goldene Zukunft“. Ihre Schulausbildung geht dem Ende entgegen und Fing könnte sich, da sie sehr arm ist, für eine Lehrerinnenausbildung mit Hilfe finanzieller Unterstützung bewerben. Aber alles muss geheim bleiben, denn die strenge Großmutter hält nichts von Almosen. Letztendlich sorgt Omm Maijs Stolz dafür, dass Fing wie viele andere Mädchen eine Dienstbotenstelle annehmen muss. Sie arbeitet bei der deutschen Frau des Zigarrenkaisers, der Prüüszeschen. Allerdings stellt sich schnell heraus, dass sie nicht im Haushalt anpacken muss, sondern sich mit der Nichte der Deutschen, Lisl, gegen Bezahlung anfreunden soll. Lisl ist erst neun Jahre alt, ein eigenartiges Mädchen und offensichtlich sehr allein. Fing ist ärgerlich, dass sie mit einem kleinen Mädchen die Zeit verbringen soll, viel lieber würde sie eine Ausbildung machen. Als Lisl sich für Fings Schwestern, besonders für die sanfte Ness, interessiert, kommt es immer wieder zu Streitereien, bis Fing Lisl kalt mitteilt, dass sie für ihre Freundschaftsdienste bezahlt wird. Fing wird entlassen, denn Lisl fingiert einen Diebstahl, den Fing ausgeführt haben soll.
Der Krieg und der Einmarsch der deutschen Soldaten verändert auch das Leben der Boons. Die Brüder und der Vater werden nach einem Zusammenstoß mit dem deutschen Militär verhaftet. Ihnen wird ein schweres Delikt, bewaffneter Widerstand, vorgeworfen. Omm Maij verkraftet die Deportation nicht, sie verliert ihre Energie und vieles bleibt an den Mädchen hängen. Durch ihre kleine Landwirtschaft und einen Vorrat an Zigarren zum Tauschen können sie sich einigermaßen über Wasser halten. In Limburg leben neben Katholiken, Protestanten und auch viele Juden, im Buch wird das Öcher Platt verwendet und hier heißen sie Jüdd. Unter der holländischen Bevölkerung sind viele deutschfreundlich gesinnt und werden als sogenannte Schwarzmäntel bezeichnet. Auch Filip, Fings erster Freund, ist dabei. Auch wenn Fing über einen Sympathisanten der Schwarzmäntel Briefe von Vater erhält, entscheidet sich das Mädchen gegen Filip. Die ersten Repressalien gegen Juden beginnen und es stellt sich heraus, dass auch die Frau des Zigarrenkaisers Jüdin ist, allerdings nicht mit dem Zigarrenkaiser verheiratet. Lisl wurde angeblich bereits in Sicherheit gebracht. Die ersten Transporte werden zusammengestellt und beinahe wäre auch Ness, die sich bei der Deutschen für ihren Mantel bedanken wollte, mit in den Zug geschoben worden.
Als die Mädchen durch Zufall Lisl im Keller ihres Hauses entdecken, sie halten sie zuerst für ein Gespenst, erkennen die Kinder, in welcher Gefahr sich ihre Familie befindet. Als dann vier Soldaten bei den Boons einquartiert werden sollen, muss gehandelt werden.
Benny Lindelauf erzählt eine atmosphärisch dichte, berührende und äußerst bewegende Familiengeschichte. Die Mädchen, Omm Maij und viele Nebenfiguren wirken von Anfang an überzeugend und lebensecht. Die anspruchsvolle Handlung zieht jeden schnell in die Gedankenwelt der Erzählerin hinein. Langsam wird das Bett für die drei Schwestern zu eng, sie wachsen nicht nur, ihr Horizont erweitert sich und doch fürchten sie sich immer noch vor Gespenstern, die im Haus ihr Unwesen treiben. Rückt die Familie in schwierigen Situationen eng zusammen, so greift auch der Krieg, der ihnen so weit weg schien, in ihren gleichförmigen, wie beschwerlichen Alltag ein. Meinungen schwappen aus Deutschland, gerade über die Juden herüber, noch winken die Bekannten ihren jüdischen Mitbürgern hinterher, doch weiß der Leser, was geschehen wird. Vieles deutet sich nur an, aber in Lisls Geschichte, sie heißt eigentlich Leeba, wird das tragische Schicksal der Juden offenbar. Instinktiv und auf ihre Gefühle vertrauend wissen die Boons, dass sie helfen wollen. Fing kann im Rückblick gar nicht fassen, warum sie sich Lisl gegenüber so verhalten hat.
Aber das ist die Stärke des Buches, die Figuren erfahren schmerzhafte, wie hoffnungsfrohe Momente, sie agieren aus ihrer eigenen Lebenssituation und ihrem Wissensstand heraus und der Leser bleibt eng an ihrer Seite und versteht.
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