Natalie Buchholz: Unser Glück, Penguin Verlag, München 2022, 224 Seiten, €20,00, 978-3-328-60188-3
„Wer würde nicht alles dafür geben, so eine Immobilie zu erben, hatte sie gesagt. Ich würde nicht alles dafür tun, hatte Coordt geantwortet, auch wenn Franziska es nicht hören wollte. Die Wohnung interessierte ihn nicht mehr. Er wollte frei sein. Er sehnte den Tag herbei, an dem Bobos Tod ihn wieder mit seiner Familie zusammenführen würde.“
Natalie Bucholz entwirft das Psychogramm einer jungen Ehe, in der die Kommunikation und die echte Auseinandersetzung auf der Strecke bleiben. Die Abhängigkeit des Glücks von der Wohnumgebung mag schon wichtig sein, doch auch in der edelsten Wohnung kann ein Paar, dessen Zusammenleben nicht mehr funktioniert, unglücklich sein. Die Unfähigkeit, den anderen zu verstehen und immer nur der Blick auf das eigene Wohlbefinden, ist ein Aspekt unter anderen, der dazu führt, dass die Ehe von Coordt und Franziska nicht lang dauern wird.
Bei dem Angebot einer bezahlbaren, hochwertig ausgestatteten, großzügig geschnittenen, großen Wohnung in einem ruhigen wie wohlhabenden Stadtteil Münchens würde wohl niemand ablehnen. Das natürlich ein Haken an der ganzen Sache bei der allgemein angespannten Wohnungslage lauert, ist klar. Coordt ahnt, dass irgendetwas nicht stimmen kann, denn so schnell die Leute die Wohnung besichtigen, so schnell verlassen sie diese auch. Beim Gespräch mit der Eintümerin der Wohnung stellt sich heraus, dass sie die Wohnung nur an den vergibt, der auch einen Mitbewohner akzeptiert. Der Ex-Mann der Eigentümerin bewohnt ein Zimmer mit Bad und Küchenzeile. Er ist angeblich krank und lebt sehr zurückgezogen. Als Coordt ihn jedoch zu Gesicht bekommt, ärgert er sich über dessen aggressiven Ton.
Coordts anstrengende Frau Franziska jedoch ist von der Wohnung begeistert und der Mann, der hinter einer Zimmertür haust, interessiert sie nicht. Von ihrem einjährigen Kind Frieder überlastet, sehnt sich Franziska nach mehr Platz und vor allem weniger Feinstaubbelastung. In den neuen vier Wänden lebt das Liebesleben des Paares wieder auf, Franziska fühlt sich wohl und freundet sich mit ihrer Nachbarin Majtken an und bekommt durch sie auch noch einen Job, der ihr gefällt. In Coordts Augen passt sich Franziska einem Chamäleon gleich ihrer Umgebung an. Sie kauft teuer Lebensmittel und übernimmt sogar die Gestik von Majtken. Coordt beobachtet dies und traut sich jedoch nicht, mit seiner Frau zu reden. Für Franziska ist die Wohnung ein Gewinn an Prestige und für sie der Hauptgewinn, nicht ihr Kind und wahrscheinlich auch nicht ihr Mann. Sie ist rundum froh, bemerkt aber auch, dass Coordt des Nachts nicht schlafen kann und sich immer fragt, wann verlässt der Mann, den alle Bobo nennen, seine Wohnung für normale Gänge und was treibt er eigentlich hinter der Tür. Die Vorstellung, dass jederzeit ein Fremder sich über das Bett seines Kindes beugen könnte, schmerzt Coordt, zumal sein Verhältnis zu seinem Sohn erst in der Wohnung besser geworden ist.
Doch dann beginnt die Hölle, die der Mitbewohner Coordt bereits angekündigt hat. Er behauptet eines Tages, dass er nun die Wohnung gekauft habe und jetzt seine Regeln gelten. Da er nur noch sechs Monate zu leben habe, wünscht er sich, dass Franziska ihn pflegt und dafür dann die Wohnung als Geschenk erhält. Coordt jedoch müsse sofort ausziehen. Diese Forderung versetzt das junge Ehepaar in einen Schockzustand, aus dem Franziska schnell erwacht und klarmacht, dass sie die Wohnung nicht aufgeben wird. Coordt fügt sich wie immer den Ansinnen seiner Frau, nicht ohne pausenlose Diskussionen zu provozieren, die sie nur nerven.
Die Aussicht auf ein wunderbares Leben nach dem Tod des Fremden scheint wichtiger zu sein, als ein gemeinsamer normaler Alltag mit seinem Kind. Franziska als Heimkind mit einer lieblosen Mutter braucht Geborgenheit und ein Nest. Eine Zeit der Lügen und des Misstrauens wird nun beginnen, denn es entstehen natürlich auch viele Fragen, die nie beantwortet werden.
In gewisser Weise stand Coordt, München muss die Immobilienhölle sein, schon einmal vor einem moralischen Dilemma. Sein Kindheitsfreund Erik, mit dem er in München eine Wohnung geteilt hatte, forderte von Coordt eine hohe Ablösesumme, die Wohnung war auch nur gemietet, wenn er die Wohnung verlässt. Der Freund sollte Erik sozusagen das Auswandern finanzieren. Zu diesem Zeitpunkt endete die jahrelange Freundschaft und Coordt ist ausgezogen.
Fein arbeitet die Autorin die Konflikte heraus und entwirft doch zwei Charaktere, die nicht unbedingt sympathisch sind, in ihrem absoluten Glücksanspruch allerdings verständlich.
Der Fremdkörper Bobo ist nur ein befremdliches Symptom für die Ungleichgewichte in der Ehe und das verlorene Vertrauen der beiden zueinander.