Khaled Hosseini: Traumsammler, Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, 441 Seiten, €19,99, 978-3-10-032910-3

„ Früher, als er klein gewesen sei, berichtete er, habe er sich setzen müssen, und dann habe sein Vater Geschichten von Dschinns, Elfen und Dämonen erzählt, wenn auch selten, denn sein Vater sei nicht oft in der passenden Stimmung gewesen.“

Pari und Abdullah aus dem afghanischen Dorf Shadbagh bitten den Vater Saboor immer und immer wieder die Geschichten, die ihm die Großmutter erzählt hat, zu wiederholen. Vom Leben hart gezeichnet doch mit einer gewissen Begabung zum Träumen, lässt der Vater sich oft überreden. Die Mutter der Kinder starb bei Paris Geburt. Die neue Stiefmutter hat ein eigenes Kind und wenig Zeit für das vierjährige Mädchen, das eigentlich vom elfjährigen Bruder vom ersten Tag an versorgt wurde. Innig ist die Beziehung der beiden Kinder, die nun mit dem Vater auf dem Weg durch die Wüste nach Kabul unterwegs sind.\r\nDie wechselvolle Geschichte der Geschwister beginnt Anfang der 1950er Jahre und endet in unserer Gegenwart. Sie spielt in Kabul, Paris und Kalifornien.

Aus verschiedenen Perspektiven und zeitliche immer wieder versetzt, mal in Briefform, als auktorialer Erzähler, als Interview oder aus dem Blickwinkel eines wichtigen Protagonisten fügt der in Kalifornien lebende Autor alle Erzählstränge zusammen. Informationen über die Geschwister fließen ein, doch erst nach achtundfünfzig Jahren sehen sie sich wieder und erkennen einander kaum.

„An manchen Tagen hatte Abdullah das Gefühl, dass seine wahre Familie nur aus ihr bestand.“

Die geliebte Schwester Pari jedoch wird, der kalte Winter steht bevor und die Familie hat bereits einen Säugling verloren, an die reiche Familie Wahdati in Kabul verkauft. Paris Onkel Nabi beichtet in seinem Abschiedsbrief kurz vor seinem Tod, dass er diesen Deal eingefädelt hatte. Er arbeitet als Koch und Fahrer für die Familie und ist fasziniert von der eloquenten und gutaussehenden Ehefrau seines Arbeitgebers. Sie ist in der afghanischen Gesellschaft eine Ausnahmeerscheinung. Sie rebelliert gegen den Vater, geht fremd, trinkt, dichtet. Als ihr ungeliebter, wohlhabender Mann, der, was er nie zugeben würde, in seinen Angestellten Nabi verliebt ist, einen Schlaganfall erleidet, flieht sie aus der Verantwortung mit ihrer Tochter Pari nach Paris.

Nabi wird seinen Herrn, dessen Neigung er erkennt, bis zu seinem Tod begleiten und innig betrauern.

Von Kriegen gebeutelt bleibt Nabi das Haus und die Erbschaft. Er stellt alles dem griechischen Arzt und plastischen Chirurgen Mr Markos, wie er ihn in seinem Brief nennt, zur Verfügung.

Die Ersatztochter Pari kann die schwarzen Leerstellen der exaltierten Mutter nicht füllen. Pari ist hochbegabt, studiert Mathematik an der Sorbonne und enttäuscht doch ihre alkoholsüchtige und zum Drama neigende Mutter. Pari ahnt instinktiv, dass sie nicht ihr Kind sein kann, weist die Ahnung aber lange Zeit von sich. Sie spürt, dass ein Mensch in ihrem Leben fehlt, aber sie weiß nicht wer. Erst in einem Interview für eine Literaturzeitschrift offenbart die Mutter Unbekanntes aus ihrer Vergangenheit. Pari wird es lesen, da hat die Mutter ihrem Leben bereits selbst ein Ende gesetzt.

Mr Markos wird auf Bitte des verstorbenen Nabi die verschollene Pari suchen und den Kontakt zu Abdullah, der mittlerweile mit seiner Familie in Kalifornien lebt, herstellen. Das Motiv der Mutter, die ihre Tochter nicht annehmen kann, taucht in den verschiedenen Schicksalen, von denen Khaled Hosseini berichtet, immer wieder auf.

Einst erzählte Saboor seinen Kindern das Märchen vom Dschinn, der den Familien die Kinder raubt. Als der Vater in dem Märchen sich auf den Weg macht, um den entführten Sohn zurückzuholen, stellt der Dschinn ihn vor die Wahl, entweder bleibt der Sohn und genießt Bildung und Wohlstand oder er nimmt ihn mit in sein Dorf und lebt ein armes, hartes Bauernleben. Pari als geraubtes Kind stehen alle Türen zum persönlichen Glück in der westlichen Welt offen. Sie kann einen Akademikerkarriere in Frankreich antreten und frei mit einem Mann, den sie liebt, leben. Wäre das im Afghanistan der Taliban möglich gewesen? Und doch bleibt die emotionale Leere, der innere unerklärliche Verlust. Es fehlen die Wurzeln. Frauenschicksale zwischen Tradition und Modern, in vielen Variationen durchziehen sie den gesamten Roman und berühren.

Bewegend bis zur letzten Seite lesen sich diese vielschichtigen, wie vielstimmigen Lebensläufe, deren Wahrheitsgehalt bei aller Fiktion der Leser gern glauben möchte. Auch wenn es um Schuld, falsche Entscheidungen, Verlust, Vergebung, tragische Lebenslügen und Würde geht, nie drückt der Autor auf die Tränendrüse und trotzdem wird der Leser gefühlsmäßig außerordentlich gefordert und das ist die große Stärke dieses Buches.