Tina N. Martin: Schattenschwester, Aus dem Schwedischen von Leena Fleger, Blanvalet Verlag, München 2025, 560 Seiten, €16,00, 978-3-7341-1382-6

„In fünf Jahren werden sie volljährig, da können sie von zu Hause ausziehen, in eine eigene Wohnung, in einer anderen Stadt, wenn sie wollen. Emma hat vor, Molly zum Einzug einen Hund zu kaufen, oder zumindest eine Katze. Gemeinsam werden sie alles schaffen, einfach alles.“

Emma und Molly sind Zwillingsschwester. Von Geburt an verbindet beide eine innige Zuneigung. Sie sind ein unschlagbares Team. Die Geschichte dieser Schwestern zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman. Denn Emma wird ab ihrem vierzehnten Lebensjahr in der geschlossenen intensivtherapeutischen Jugendhilfeeinrichtung in Bodengården leben. Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Wo ist Molly und wo die Eltern? Nach und nach erfahren die Lesenden wie die Verhaltensweisen der Eltern von Emma und Molly die kleine Familie zerstören werden. Als Emma ins Heim kommt, lebt dort auch Elvira Lind, die, das wissen alle, schwanger ist.
Der Roman jedoch beginnt mit einem schrecklichen Ereignis, denn Elvira, die seltsamerweise drei Jahre von der Bildfläche ohne ein Lebenszeichen verschwunden ist, hat sich aus dem Kirchturm unweit der Jugendhilfeeinrichtung in den Tod gestürzt. Zeugen waren eine Hochzeitsgesellschaft und eine Fotografin, die wertvolles Material der Polizei zur Verfügung stellen wird. Auffällig ist, dass Elviras blasses Gesicht davon zeugt, dass sie sich lange in verdunkelten Räumen aufgehalten haben muss.
Die Kommissare Calle Brandt und Idun Lind befassen sich nun mit diesem Fall, bei dem nicht klar ist, ob sich Elvira zum Suizid entschlossen hat oder von einer Person gestoßen wurde. Und dann bleibt immer noch die Frage: Wo ist ihr Kind? Die Lesenden erfahren von Elviras Leid, ihrer Gefangenschaft und auch davon, dass sie ihr Kind, ein Mädchen, geboren hat. Denn nicht nur Elvira musste das Martyrium durchleiden, auch Agnes Backe, ebenfalls schwanger, lebt im unterirdischen
Kerker. Auch Agnes verschwand vor einiger Zeit, doch die Polizei geht bei Jugendlichen aus den Heimen immer davon aus, dass sie über kurz oder lang wieder zurückkommen.
Brisant an dem Fall ist, dass Idun Lind mit Elvira verwandt ist. Beider Mütter sind Schwestern, die allerdings jahrelang keinen Kontakt hatten. Zum einen gab es einen großen Altersunterschied und Maj, die Mutter von Elvira, hat sich nie um ihre Tochter gekümmert, bedingt auch durch ihre psychische Erkrankung. Bei den Befragungen des Personals in der Jugendeinrichtung setzt sich langsam ein Bild von den eingeschlossenen Mädchen, die zum größten Teil gewaltbereit und aggressiv auf alles reagieren, zusammen. Ihr Vertrauen zu Erwachsenen ist fundamental erschüttert. Emma scheint der ruhende Pol der Mädchengemeinschaft zu sein, diejenige mit der alle sprechen. Sie genießt die Zuneigung von Beata und Knut, dem aufsichtsführenden Personal, aber auch von Mona, der Psychologin und der Leiterin Viveca. Die Ermittler stellen zwar fest, dass Knut vor Jahren mit der Polizei zu tun hatte, aber alle anderen Sozialarbeiter und die Psychologin ihrer Arbeit mit Engagement und Empathie nachgehen. Calle und Idun treten auf der Stelle, sie kommen einfach nicht voran. In einer Nebenhandlung erfahren die Lesenden, dass die Mädchen aus dem Heim in der Nacht unterirdische Gänge finden und dass Knut offenbar zur minderjährigen Insassin Kajsa ein mehr als professionelles Verhältnis hat.
Da Tina N. Martin zeitversetzt und aus den Blickwinkeln der Jugendlichen im Heim, den im Kerker gefangenen Mädchen, den Ermittlern und den Zwillingen erzählt, können die Lesenden schnell selbst kombinieren, was eigentlich geschehen ist und wer hinter den Grausamkeiten stecken könnte.
Doch in immer neuen Wendungen ändert sich das Bild von den einzelnen Figuren.
Interessant ist der Blick in die schwedische Gesellschaft und ihr Umgang mit Jugendlichen, die früh durch kriminelle wie gewaltsame Taten auffallen.
Ziemlich oft kreisen die Romane von Tina N. Martin um das Thema Mutterschaft in all ihren Facetten, auch Idun wird in diesem Band feststellen, dass sie von ihrem Freund Tareq ungewollt schwanger ist und eine Entscheidung treffen muss.
Wie immer spannende Lektüre mit Tiefgang!
Auf dieser Website ist auch die Besprechung des Romans „Apfelmädchen“ von Tina N. Martin zu lesen: http://karinhahnrezensionen.com/lese24/tina-n-martin-apfelmaedchen/