Steven Cavanagh: Fifty-Fifty, Aus dem Englischen von Jörn Ingwersen, Goldmann Verlag, München 2024, 512 Seiten, €12,00, 978-3-442-49473-6

„Wäre sie aufmerksamer gewesen, hätte sie ihren Plan nicht ändern müssen. Sie glaubte, dass Vater
im Grunde immer über sie Bescheid gewusst hatte. Er hatte die Bissspuren an Mutters Bein gesehen und sie gedeckt. Vielleicht konnte er nicht ertragen, wer sie in Wahrheit war. Ihr Wesen würde jeden Vater mit Abscheu erfüllen. Und doch hatte er sie nie darauf angesprochen, konnte nach dem Tod der Mutter aber auch mit keiner von ihnen zusammenleben.“

Dieser extreme Kriminalfall in Manhattan wird auf einen spektakulären Gerichtsprozess hinauslaufen, denn der grausig getötete Frank Avellino war einst der Bürgermeister von New York. Auf der Anklagebank werden seine beiden Töchter Alexandra und Sofia sitzen und die Geschworenen müssen entscheiden, wer nun die Mörderin des schwerreichen Vaters ist. Als die Tat geschah, hielten sich beide Frauen, sie sind Anfang zwanzig und hassen sich seit Kindertagen, im Haus des Vaters auf. Jede meldet sich aus einem anderen Zimmer bei der Notrufzentrale und fordert ein schnelles Eintreffen von Polizei und Krankenwagen. Jede beschuldigt die andere der blutrünstigen Tat.
Vom Geschehen berichten aus unterschiedlichen Perspektiven die Verteidiger der Frauen und eine Angeklagte. Sofias Strafverteidiger ist der mit allen Wassern gewaschene Eddie Flynn und Alexandras Verteidiger ist der ebenfalls erfahrene Theodore Levy. An seiner Seite agieren zwei Anwälte, die in der Kanzlei erst aufsteigen wollen. Scott Helmsley ist ein williger Handlanger aller Aufträge, aber Kate Brooks denkt mit und muss sich immer wieder den sexuellen Angeboten Levys erwehren. Als er sie dann, auch aus Frust, immer wieder demütigt, ergreift sie die Initiative und botet ihn bei der Klientin Alexandra aus. Als alleinige Strafverteidigerin hat Kate nun zwar eine Klage am Hals, aber sie ist fest von Alexandras Unschuld überzeugt. Die Lesenden jedoch werden in den Abschnitten, die mit SIE überschrieben sind, im Ungewissen gelassen, wer nun wirklich die skrupellose Täterin ist, denn diese räumt einen Widersacher nach dem anderen aus dem Weg. Sogar Eddie Flynns Assisitentin Harper, die früher bei der Polizei war, wird von ihr getötet, da sie ein wichtiges Detail in einem Beweisvideo bemerkt hat.
Schnell wird klar, Frank Avellino wurde in seinem eigenen Haus ermordet, weil er sein Testament ändern wollte. In vielen Aussagen wird behauptet, dass Frank am Ende seines Lebens langsam dement wurde. Um sich seines Geisteszustandes zu vergewissern, hat er sogar Tagebuch geführt. Eddie Flynn allerdings wird anhand des Obduktionsberichtes herausfinden, dass sein Gehirn kaum angegriffen war, d.h. jemand hat ihn unter Drogen gesetzt.
Als nun klar wird, dass das Gericht sich nicht auf zwei Prozesse einlassen wird, sondern eine Verhandlung in Angriff nimmt, kommen sich auch Eddie und Kate etwas näher. Kate hofft, dass ihre vom Leben nicht so gezeichnete Angeklagte die Geschworenen von ihrer Unschuld überzeugen kann. Die einsame Sofia hingegen hat eine Vergangenheit hinter sich, die eher von Schulabbruch und seelischen Aussetzern gezeichnet ist. Schuld daran kann der frühe Tod der Mutter sein. Beide Mädchen haben weder vom Vater noch von der Mutter Liebe erfahren. Die Mutter wollte die Kinder mit Drill zu perfekten Schachspielerinnen ausbilden, der Vater hat die Mädchen nach dem Unfalltod der Mutter sofort in unterschiedliche Internate gesteckt, ohne sie je zu besuchen.

Geschickt spielt Steve Cavanagh mit den Wahrnehmungen seiner Lesenden, die von den fiktiven Lebensumständen der Handelnden Meilen entfernt sind, und dem Ehrgeiz der Verteidiger, die beide von der Unschuld ihrer Mandantinnen überzeugt sind. Erst ein gemeinsames Treffen zwischen Eddie und Kate scheint Zweifel zu sähen und immer wieder kippt die Handlung durch neue Beweismittel oder Gedankenspiele, die von der wahren Täterin auf faszinierende Weise manipuliert werden.
Steve Cavanagh ist ein Meister seines Genres und seine Handlung ist clever geschrieben, dabei konzentriert er sich klug auf die Fallstricke in Prozessen und gerechte Urteile, die nicht immer gesprochen werden. Dass am Ende auch der schmierige Anwalt Levy seine Strafe erhält, ist gerade für Leserinnen eine Genugtuung.