Amelie Fried: Die Spur des Schweigens, Heyne Verlag in der Randomhouse Verlagsgruppe, München 2020, 496 Seiten, €22,00, 978-3-453-27048-0

„Julia starrte den glatt gescheitelten Jüngling in seinem knappen Anzug, der ihn wie einen zu groß geratenen Konfirmanden wirken ließ, wütend an. Anstatt zu überlegen, wie man Millionen hungernder Menschen auf der Welt mit Nahrung versorgen könnte, entwickelten diese Pharmafritzen ein Placebo für verfettete Wohlstandsärsche und kamen sich noch toll dabei vor! Es war nicht zu fassen.“

Julia Feldmann kann sich als erfahrene Journalistin zwar nicht leisten, Aufträge in den Wind zu schießen, aber sie hat Charakter. Und wenn sie für die Zeitung GESUNDHEIT HEUTE Artikel schreiben soll, dann doch eher über seriöse Themen. Ihr alter Freund Chris, der jetzt auch noch den Chefredakteursposten einnimmt, ist da zwar anderer Meinung, aber Julia kann sich durchsetzen.
Mit Ende 30 hadert sie mit ihrem Status der freiberuflich arbeitenden jedoch schlecht bezahlten Journalistin. Ihr Leben als Single bereut sie zwar nicht, zumal sie sich, aus welchen Gründen auch immer, kaum auf einen Mann einlassen kann, aber sie ist irgendwie mit allem unzufrieden. Das kann auch daran liegen, dass ihre leicht verwirrte Mutter kürzlich behauptet hatte, dass sie einen Anruf von ihrem Sohn Robert erhalten hätte. Robert ist der jüngere Bruder von Julia, der seit zwölf Jahren verschwunden ist. Er ist nicht aus dem Norwegen-Urlaub zurückgekehrt. Hatte er einen Unfall, ist er ermordet worden? Eine Leiche wurde nie gefunden.

In Vor- und Rückblenden begleitet die Leserin (Es ist einfach ein Frauenbuch!) Julias Arbeits- und Privatleben. Sie ist dabei, wenn Julia ihre streitbaren und privat auch nicht glücklichen Freundinnen Nina und Kathrin nach dem Salsa-Kurs trifft. Sie erlebt Julias inneren Kampf, wenn sie sich an den Bruder erinnert und an seine Auseinandersetzungen mit dem Vater. Und zu allem Unglück muss Julia auch noch ihre Wohnung wegen Eigenbedarf verlassen. Eine Katastrophe!

In verschiedenen Varianten dreht sich dieser Roman um die Tatsache, dass Menschen von anderen Menschen abhängig sind und diese ihre Machtpositionen ausnutzen oder auch nicht.
Julia ist als Freiberuflerin von ihren Arbeitgebern abhängig. Kein Auftrag, kein Geld, keine Sicherheit. Robert war von der Liebe des Vaters abhängig, den er zutiefst enttäuschte, weil er durch seine Prüfungsangst kein Abitur ablegen konnte und nicht Mediziner wurde wie er. Julia ist von Maklerinnen abhängig, die über den Wohnungsmarkt herrschen. Gegen eine gewisse Summe könnte Julia, das unseriöse Angebot einer Frau, zuerst von freien Wohnungen erfahren.

„Es gab also nicht nur Männer, die ihre Position ausnutzten. Warum auch, Frauen waren schließlich keine besseren Menschen.“

Die chinesischen Doktorandinnen im Johannes-Löwe-Institut sind von ihren Doktorvätern oder Vorgesetzten abhängig.
Julia soll im Wissenschaftlermilieu recherchieren, denn am Institut kam es angeblich zu Übergriffen, Anzüglichkeiten und auch schwerem sexuellen Missbrauch. Julia versucht auf vielen Wegen, die deutschen wie chinesischen Frauen, die offensichtlich betroffen sind, zum Reden zu bringen. Aber klar ist, wer aus China nach Deutschland kommt, muss hier erfolgreich sein. Stipendien werden nicht vergeben, um missliche Vorgesetzte anzuzeigen. Der Leiter des Instituts ist über jegliche Kritik erhaben. Ein Name fällt immer wieder: Dr. Höger. Er nähert sich gern den devoten Chinesinnen, die es nie gelernt haben, ihre eigene Meinung zu sagen, sich durchzusetzen und auf männliche Dominanz mit Gegenwehr zu reagieren. Eine junge Frau hat sich selbst getötet, nachdem sie keinen anderen Ausweg mehr wusste. Transparenz, auch was wissenschaftliche Veröffentlichungen angeht, ist nicht Sache der Institute. Julia verabredet sich sogar mit Dr. Höger und lässt sich auf ein sexuelles Abenteuer mit ihm ein. Schwerer Fehler, denn diese Intimität verunsichert die Frauen, die vielleicht doch gegen Höger aussagen wollten.

Ereignisreich ist dieser Roman, der vielleicht zu viele aktuell relevante Themen neben MeToo anreißt. Dass Robert dann auch noch der Freund der toten chinesischen Wissenschaftlerin war, scheint etwas überkonstruiert. Amelie Fried erzählt nicht chronologisch, sondern schraubt sich mit jedem Kapitel tiefer hinein in die Biographie ihrer doch sehr widersprüchlichen Hauptfigur, die mit der Veröffentlichung ihres anklagenden Artikels die schuldigen teilweise vor Gericht bringen kann, aber auch die Frauen, die aussagen müssen, in viele schwere Konflikte und Anfeindungen stürzt.