Torsten Schulz: Skandinavisches Viertel, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018, 263 Seiten, €20,00, 978-3-608-98137-7
„Soll er ihr sagen, dass er so etwas wie eine imaginäre Website hat, auf der es heißt: Ich bin Teil von etwas Überflüssigem und lebe ziemlich gut davon…? Oder sollte er vom Onkel erzählen, dem heimlichen Widerstandskämpfer, der mit ihm des Nachts die Straßenschilder mit neuen Namen überklebt hat? Soweit die Legende…. „
Zwischen der mittlerweile hässlichen Schönhauser Allee, Bornholmer Straße und der großflächigen Brache, in der die S-Bahnen Richtung Wedding hindurch rasen, zieht sich das Nordische oder Skandinavische Viertel. So benannt nach den für die DDR damals exotischen Straßennamen, ob sie nun Norweger Straße, Odenser Straße oder Andersen Straße heißen.
Diese Gegend des Prenzlauer Berges ist die Arbeitsfläche des Immobilienmaklers Matthias Weber. Seine Geschichte von der Kindheit bis zu seinem 50-zigsten Lebensjahr erzählt der Autor Torsten Schulz, selbst 1959 in Ostberlin geboren.
Matthias Weber wohnt mit den Eltern, dem wortkargen Vater und die den Sohn umsorgende Mutter in der Mühlenstraße, eher Richtung Pankow. Und doch spaziert Matthias am liebsten durch das nordische Viertel, hier läuft er seinem Onkel Winfried bei seinen Kneipengängen über den Weg, hier wohnt seine Oma und sein Opa Paul, hier kann er die sächsischen Grenzposten auf den Arm nehmen und auf seine Weise träumen. Aus dem Blickwinkel des Kindes stromert der Leser durch das Wohnviertel vor vierzig Jahren, erlebt die lieblosen, wie ritualisierten Familientreffen. Matthias Vater, der als Maurer arbeitet, hasst den eigenen Vater, der ein fauler Säufer ist. Er hat wenig Kontakt zu seinem Bruder Winfried, der ebenfalls nicht gern arbeitet. In der Familie herrscht eher Feindschaft als Zuneigung und sie verbirgt Geheimnisse, die der ziemlich lebhafte Matthias allerdings erst nach und nach erfahren wird.
In Erinnerungsschüben und zeitversetzt erzählt Matthias, der nie Freunde hat und auch keine eigene Familie, mal von den Kindertagen, dann wieder von seiner Maklertätigkeit in seinem Lieblingsviertel. Mit seinen eigenen vier Eigentumswohnungen, die er vermietet, könnte er sich eigentlich zur Ruhe setzen. Auch wenn er gereist ist und sogar in Los Angeles gelebt hat, in Helsinki, Stockholm oder Dänemark war er nie. Eigentlich hatte Matthias Journalismus studiert, auch während seines Auslandsaufenthaltes geschrieben, aber nie viel Geld verdient, da er sich nie an Fakten, sondern eher seiner Fantasie orientiert hat. Leute ab und zu anzulügen, scheint ihm Spaß zu machen.
So sorgte er auch ziemlich selbstherrlich dafür, dass in seinem Viertel nur Leute wohnen, die seiner Meinung nach hierher passen. Reiche Russen oder Angebern aus dem Westen vermietet er grundsätzlich keine Wohnung. In seinen Rückblicken erinnert sich Matthias an die Wohn- und Lebenssituation der Menschen im damaligen Ostberlin, an den marxistisch-leninistisch ausgerichteten Unterricht, seine eigenen guten Leistungen und die Notlügen, die ihn auch hier einfach nur weiterbrachten.
Doch wer ist dieser Matthias Weber? Was interessiert den Autor an dieser widersprüchlichen, wie bindungsunfähigen Figur, deren Leben eher durch Zufälle, Frauenbekanntschaften oder genutzte Gelegenheiten geprägt ist?
Absolut authentisch wirken die Passagen, die im Osten spielen oder die Szenen, die sich um die Veränderungen und Spekulationen mit Wohnungen und dem Leben der Menschen nach dem Fall der Mauer drehen. Erzählt wird von den beiden deutschen Staaten und der Zeit nach der Wende. Das Skandinavische Viertel ist heute die eher ruhige Seite des Prenzlauer Berges, ohne Spätis, schöne Cafés und individuelle Shops. Und doch eine Gegend im Umbruch.
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