Sia Piontek: Die Sehenden und die Toten, Goldmann Verlag, München 2024, 416 Seiten, €17,00, 978-3-442-20664-3
„Auf dem Weg zur Polizeidirektion versuchte Carla, das Bild von Justus vor ihrem inneren Auge weiter zu schärfen. Inzwischen ging sie davon aus, dass Justus ein Doppelleben geführt und dabei ziemlich viele Menschen in seinen Bann geschlagen hatte. Ein paar von ihnen hatten das womöglich teuer bezahlt.“
Carla Seidel hat ehemals erfolgreich für die Mordkommission in Hamburg gearbeitet, doch nun lebt sie mit ihrer siebzehnjährigen Tochter Lana in einem großen Haus mit Garten im idyllischen Wendland und kümmert sich um Falschparker. Gezeichnet von Panikattacken, einem Gerichtsprozess gegen ihren gewalttätigen Ex-Ehemann und einem Alkoholproblem sucht die Ermittlerin Abstand von der Vergangenheit. Außerdem muss sie sich mehr um ihre hochsensible Tochter kümmern, die zum Beispiel, was auf dem Land schwierig ist, keine öffentlichen Nahverkehrsmittel nutzen kann und sich auch weigert, auf ein Fahrrad zu steigen. Doch dann wird die Leiche des achtzehnjährigen Justus Libermann entdeckt, der offenbar vollgepumpt mit Betäubungsmitteln erstickt ist. Makaber ist, dass der oder die Täter ihm die Augäpfel entfernt und durch Spiegel ersetzt haben.
Sia Piontek erzählt ihren Krimi aus der personalen Erzählebene von Carla und Lana. Beide kommen immer wieder ins Gespräch, zumal Carla sogar ihren Flipchart zu Hause aufstellt, um sich ein genaueres Bild vom Tathergang und dem Familien- wie Freundeskreis des Opfers zu machen. Detailliert geht es nun um akribische Polizeiarbeit, mit der Carlas Chef, der lieber mit seiner Frau ins Gartencenter fährt, als Mörder aufzuspüren, eindeutig überfordert ist. Als dann jedoch der junge, überaus ehrgeizige wie dominante Polizeirat Kai Wächter die Leitung der Soko übernimmt, hat Carla wenig Spielraum, denn er fühlt sich von der erfahrenen Ermittlerin bedroht und findet immer die Triggerpunkte, die Carla zur Weinflasche greifen lassen. Doch Wächter ist nicht grundlos in der Pampa gelandet und vorbelastet. Bald schon übernimmt Carla die Leitung. Justus Libermann jedenfalls entstammt einer angesehenen, wie gutbetuchten Familie und schnell erkennt die Polizistin, dass Justus‘ verunsicherte Mutter unter dem Diktat ihres charismatischen, wie arroganten Ehemann steht, der gern seine Beziehungen spielen lässt und den der Tod des Sohnes kaum berührt. Klar wird auch, dass Justus zum einen den braven Sohn gemimt hat, der im Ruderclub aktiv war, Lyrik liebte und Klavier gespielt hat, zum anderen jedoch manipulativ seine Mitschüler beeinflusst hat und zu gern gefährliche Grenzerfahrungen auch mit Hilfe der sozialen Medien erleben und dokumentieren wollte.
Da alle Indizien auf einen sehr sorgfältigen Umgang mit der Leiche hinweisen, geht die Ermittlerin immer mehr von einer Täterin aus. Doch mehrere Frauen in Justus Umgebung wurden gedemütigt und hinters Licht geführt. Eine wird Carla zu Nahe kommen.
Spannend liest sich dieser Krimi, der auf der einen Ebene Carlas wechselvolles Leben umkreist, auf der anderen natürlich den aktuellen Fall, der Fingerspitzengefühl und ein gutes Ermittlerteam unter Carlas Leitung erfordert. Die Autorin des ersten Carla Seidel Falls ist Claudia Wuttke, die bereits mehrere Romane veröffentlicht hat. Nun erscheint ihr erster, sehr lesenswerter Krimi unter dem Pseudonym Sia Piontek.