Mareike Krügel: Schwester, Piper Verlag, München 2021, 336 Seiten, €22,00, 978-3-4920-5856-8
„Sie hatte dagestanden in der Dunkelheit und eine wunderbare Erleichterung gespürt, dass sie einen Aufschub hatte von der Pastorats-Idylle. Einen Moment zum Durchatmen zu haben, war im Grunde das Beste, was das Leben zu bieten hatte. Wenn es etwas gab, um das Gott zu bitten sich wirklich lohnte, dann war es dies.“
Iulia geht auf die vierzig zu, sie hat Aaron, ihren sechzehnjährigen Sohn und einen Ehemann, der Pastor ist, und schon aus beruflichen Gründen immer auf alles eine Antwort weiß. Als Bankangestellte, die Teilzeit arbeitet, reißt sie sich kein Bein aus. Alles plätschert irgendwie so dahin. Doch dann rast ihre fünf Jahre ältere, äußerst attraktive Schwester Lone nach einem Einsatz als Hebamme mit 100 km/h des Nachts in einen Traktor. Mutmaßungen der Schwester in Begleitung der Songs von Simon & Garfunkel, was geschehen sein könnte: Ist sie auf der Fahrt zur Ostsee, um den Sonnenaufgang zu sehen, einfach eingeschlafen? Wollte sie ihrem Leben ein Ende bereiten, nachdem sie von ihrem Ex-Freund Till eine Karte mit Frau und neuem Baby gesehen hat? Hat der einsame Tod ihres Vaters sie so aus der Bahn geworfen? Lone, die mit ihren schwarzen Haaren wie die Madonna auf einem Renaissance-Gemälde aussieht, hatte sich vor fünf Jahren nach einem Vorfall im Krankenhaus als Hebamme selbstständig gemacht. Was genau Lone in ihrer Arbeit geschehen ist, es gibt ja auch die Schweigepflicht, weiß Iulia eigentlich gar nicht so genau. Lone hat kaum Freunde, denn sie sieht einfach zu gut aus. Die Person, die ihr am nächsten stand, war ihre Schwester. Doch auch Iulia trägt ein seelisches Päckchen mit sich herum. Immerhin hat ihre Mutter, die sich immer bedürftige Kinder kümmern musste, sie verlassen, da war sie acht Jahre alt.
Iulia jedenfalls sucht sich nun die Adresse der Frauen heraus, mit denen Lone als Hebamme zuletzt zu tun hatte. Zwar hat sie den Landfrauen schon aufs Band gesprochen und doch will sie vor Ort schauen, ob diese etwas benötigen. Und so schaut Iulia, die offenbar alles, was seit Lones Unfall geschehen ist, aufzeichnet, in die unterschiedlichen Leben von Maren, Kristin, Nana, Vera und Gabrielle. Sie erfährt von ihnen, wie rüde in Krankenhäusern mit Schwangeren umgegangen wird und was vertuscht wird. Lone ist der Engel dieser Frauen, die Hausgeburten möchten und wissen, dass eine Hebamme die Versicherungskosten dafür gar nicht zahlen kann und sie selbst ebenfalls nicht. Lone geht dieses Risiko ein, berät die Frauen, ist da, wenn sie gebraucht wird.
Plötzlich muss Iulia einer Schwangeren helfen, um ein Kälbchen auf die Welt zu bringen oder sie steht am Grab eines Kindes, dass nur bis zur 14. Woche atmete.
An Lones Bett sitzt die Stiefmutter und strickt, Iulias Vater hat ein krankes Bein, der Bruder ist ein hysterischer Hypochonder und Iulias Mann hat keine Ahnung, was seine Frau so treibt.
Nur Aaron genießt den Freiraum ohne die Mutter, die auf ihre humorvolle Art sehr gut mit ihrem Sohn umgeht.
„Homies“, sagte er und schnaubte. „Wo hast du denn das Wort her?“
„Du könntest die Getränke sogar selbst besorgen, hast du dir das mal überlegt? Jesus predigte um vier: Wer sechzehn ist, kauft selber Bier.“
Iulia mag die „Schäfchen“ ihres Mannes nicht, die beobachten, was sie als Frau des Pastors so alles falsch macht. Durch die Beschäftigung mit dem so ganz anderen Leben ihrer Schwester, verändern sich für Iulia viele Sichtweisen auf das, was bisher einfach so mechanisch im Leben stattfand.
Mareike Krögel erzählt dialogstark vom ganz normalen Leben, all seinen Unwägbarkeiten und dem Moment, wo alles plötzlich sich verändern kann. Lone hat trotz Konflikte und auch Existenzangst sich um die gekümmert, die sie gebraucht haben. Iulia wirft dies völlig aus der Bahn und sie versucht, ihr Leben wieder selbst zu bestimmen. .