Julia Schoch: Schöne Seelen und Komplizen, Piper Verlag, München 2018, 313 Seiten, €20,00, 978-3-492-057738

„Ich spürte wieder, wie gut es tat, bei so einer großen Sache wie damals mit dabei gewesen zu sein. Manchmal fange ich nachträglich richtig zu schwitzen an bei dem Gedanken, ich hätte es verpassen können. In jedem Menschenleben gibt es wahrscheinlich nur ein wirkliches Großereignis.“

Julia Schoch hat eine faszinierende Versuchsanordnung gewählt, sie platzt mitten hinein in die Leben von verschiedenen Teenagern, die alle an die gleiche Potsdamer Schule gehen. Zyklisch, Jahr um Jahr, von 1989 bis 1992 stehen einzelne Szenen für sich, aber es gibt auch Querverbindungen zwischen den Mitschülern.

Es ist Sommer 1989, Lydia Gebauer, Stefanie Kuhn, Kati Viehweg, Franziska Stellmacher und die anderen genießen noch die Ferien oder arbeiten im Park von Sanssouci bevor wieder die Schule und die Abiturzeit an der Kollwitz beginnt. Sie sind sechzehn, siebzehn Jahre alt und berichten recht nüchtern davon, was jeder Jugendliche mit Freunden, den Eltern, der ersten Liebe, den Lehrern aber auch dem sozialistischen System durchlebt. Alexander Wagenthaler, der ganz gut zeichnen kann und eigentlich Geschichte studieren will, setzt sich mit seinem Lehrer auseinander, der ihn mit subtiler Überzeugungsarbeit zu einem längeren Dienst in der Armee überreden will und natürlich auf die Lehrerlaufbahn orientieren. Direktor Simizeck hält wie immer seine ellenlangen Propagandareden. Glauben die einen, alles wird für immer geregelt sein, Schule, Abitur, Studium, Arbeit, Rente, so hoffen die anderen auf Veränderung. In jedes individuelle Leben wird der Leser hineingezogen und er verlässt es auch wieder. Ein Faden wird aufgenommen, aber nicht immer zu Ende gesponnen. Vieles muss er sich puzzleartig zusammensetzen, sich selbst ein Bild von den jungen Erwachsenen machen, denn diese werden ohne Vorwarnung in einen gesellschaftlichen Umbruch hineingeraten. Aus der Perspektive der Jugendlichen wird nun erzählt, wie Mauerfall und Wende sich auf sie und die Erwachsenen, Eltern und Lehrer, auswirken. Direktor Simizeck verschwindet, Verunsicherung macht sich breit, Lehrer brechen im Unterricht zusammen, Schüler geben renitente Antworten, sind aber auch verunsichert.
„Andererseits kann die Viehweg ihre Klappe nicht halten. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit verteidigt sie den alten Staat. Sie sagt, sie könne nicht verstehen, wie man sich freiwillig für die soziale Unsicherheit entscheiden kann.“

Setzt sich der Alltag der einen einfach fort, bewegt die anderen der Umbruch, die Angst vor der Zukunft, so verharren die anderen in ihren persönlichen ganz privaten Querelen. Alexanders Vater hat seine Stasiakte gelesen und bricht zusammen, ein Lehrer wird von einem LKW überfahren, die Schülerin Vivian Korbus versucht ihrem Leben ein Ende zu setzen. In Erinnerungen, Rückblenden und gegenwärtigen Beschreibungen fächert die Autorin die unterschiedlichen Schicksale auf und beenden sie auch wieder schlagartig. Türen öffnen sich und klappen wieder zu. Zum Ende hin signalisiert die Abiturfeier 1992, diese Generation wird in Freiheit ohne politische Gleichschaltung und propagandistische Drangsalierungen ihren Weg machen können.

Im zweiten Teil des Romans sind fünfundzwanzig Jahre vergangen und um ehrlich zu sein, wird er jetzt erst richtig interessant. Julia Schoch spürt nun den realistischen Lebenswegen der ehemaligen Schüler nach, die alle Mitte vierzig sind. Sie erzählen wie sie leben, was sie bewegt, wie sie die Welt sehen und vor allem, ob sie in der neuen Gesellschaft angekommen sind. Ihre Schule heißt nun Luisengymnasium, an dem Stefanie Kuhn als Lehrerin arbeitet. Sie organisiert ein Klassentreffen, zum dem allerdings nur sieben Ehemalige kommen. Wieder taucht der Leser nur kurzzeitig in die Lebensstationen der Protagonisten ein. Kati Viehweg arbeitet als Soziolinguistin und muss immer wieder erleben, wie wenig ihr alter Vater, der einst in der SED-Kreisleitung gearbeitet hat, sie ernst nimmt. Alexander Wagenthaler reist von einem Historikerkongress zum nächsten, hangelt sich von einem Projekt zum anderen und spürt die innere Distanz zur eigenen Arbeitssituation. Sind die einen weit fort von Potsdam wie Franziska, so sind andere aktiv, wie Rebekka oder desillusioniert wie Ruppert. Sie haben Familie und leben im Reihenhäuschen durch das Erbe der Großmutter, sie betrügen einander, sind geschieden und zutiefst unglücklich durch die Trennung von den Kindern. Sie ärgern sich über den fehlenden Gemeinschaftssinn oder sind die allergrößten Egoisten. Sie stoßen an berufliche und persönliche Grenzen und müssen diese aushalten. Die einen graben den Garten um, die anderen suchen sich ein amouröses Abenteuer, die anderen kämpfen um Sorgerechte und Alimente. Und Alexander sagt:

„Wenn ich meinen geistigen Zustand definieren sollte, würde ich sagen, ich lebe in ständiger Ungeduld und zugleich in großer Erschöpfung. Eine Art angeleintes Pferd, das sich wild galoppierend tiefer und tiefer in den Sand unter ihm arbeitet.“