Tanja Kinkel: Schlaf der Vernunft, Verlagsgruppe Droemer Knaur, München 2015, 448 Seiten, €19,99, 978-3-426-19967-1

„Und gerade deswegen hielt es Angelika für möglich, dass eine echte Änderung geschehen konnte, wenn Martina einem Menschen gegenüberstand, Kind eines getöteten Menschen, das durch sie gelitten hatte. Sie glaubte an die Fähigkeit ihrer Mutter zum Mitgefühl, wollte daran glauben.“

Im Jahre 1998 erhält Angelika Limacher einen Brief von einem Pfarrer. Sie ahnt, worum es gehen könnte, um ihre Mutter. Martina Müller, „das Biest von Nürnberg“, eine Angehörige der zweiten Generation der RAF, ist nicht im Gefängnis gestorben, sondern wird nach 20 Jahren entlassen. Angelika lebt gut durch ein reiches Erbe abgefedert mit ihrem Zahnarztehemann, der auch noch CSU wählt, und ihre Zwillingen. Aufgewachsen ist sie bei ihren Großeltern in Nürnberg und als Angelika elf Jahre alt war, kam alles, was sie an die Mutter geschickt hatte, ungeöffnet zurück. Fast zwanzig Jahre lang hatte sie nun keinen Kontakt mehr zu Martina Müller, die jetzt auf die 50 zugeht.

Tanja Kinkel rekonstruiert mit Klarnamen und fiktiven Figuren die Zeit Ende der 1970er Jahre in der BRD. Sie wechselt die Zeitebenen und Perspektiven, um dem Leser zu verdeutlichen, wie Martina Müller sich langsam von einer unpolitischen Filmstudentin und Mutter zur radikalen Terroristin entwickelte. Sie wurde für das Attentat auf den Staatssekretär Werder aus dem Justizministerium, den Tod des Chauffeurs und der Personenschützer verantwortlich gemacht. Mit schweren gesundheitlichen Folgen hatte ein Personenschützer überlebt, der sich für das Geschehene schuldig fühlt. Aus seiner Sicht und aus der Sicht des Sohnes vom Chauffeur, Alexander Gschwinder, der als Journalist arbeitet, erfährt der Leser vieles über das Innenleben der fiktiven Figuren.

Auch wenn Angelikas Mann vehement dagegen ist, verbringt sie mit ihrer Mutter nach ihrer Entlassung eine Woche an der Nordsee. Fremd ist Angelika diese Frau, die kaltblütig gemordet hat und diese Tat immer noch verteidigt. Doch warum hat sie das getan? Was hat sie damals so aufgewühlt und sogar dazu bewegt, ihr eigenes Kind zu verlassen, um in den Untergrund zu gehen?

Neben den Rückblicken in die Vergangenheit, eine Mitstreiterin der RAF und Freundin von Martina Müller flüchtete in die DDR, wobei auch Martina Müller Kontakt zur Stasi unterhielt, sind die Gedankengänge der Angehörigen der damaligen Opfer am interessantesten. Alex Gschwinder will sich mit Martina Müller treffen, will hören, was sie zu sagen hat.

Angelika versucht indessen auf Sylt der Mutter näher zu kommen, die Entfremdung zu überbrücken. Nach und nach sprechen die beiden Frauen miteinander und es offenbart sich, dass Martina Müller mehr als desillusioniert ist, wenn sie die Vergangenheit und die Gegenwart betrachtet. Sie hat nichts zu einer besseren Welt beitragen können.
Spannend liest sich dieser Roman, in dem viele historischen Geschehnisse der nahen Vergangenheit geschickt in die Handlung verwoben werden, die als allgemein bekannt gelten. Die Konfrontation mit den damaligen Zielen und Gedanken spielt im Angesicht der Angehörigen heute eine besondere Rolle. Welche guten Absichten rechtfertigen Gewalt? Warum haben die RAF-Leute nie an die Toten und Hinterbliebenen gedacht, die nicht im politisch-gesellschaftlichen Rampenlicht standen und deren Leben irgendwie weitergehen musste?
Mit der individuellen Erfindung einer RAF-Kämpferin, ihres persönlichen Umfeldes und der Opfer auf der anderen Seite gewinnt die Geschichte an Tiefe.