Amy Sackville: Ruhepol, Aus dem Englischen von Eva Bonné, Luchterhand Literaturverlag, München 2012, 352 Seiten, €19,99, 978-3-630-87335-0
„Aber auch Emily, die in aller Bequemlichkeit lebte und wartete, während Edward verhungerte und erfror, wusste auf die ihr eigene Weise, was es bedeutet, sich trostlos und leer und einsam zu fühlen.“
Julia und Simon leben in einem vollgestopften Haus voller Erinnerungen und den Geistern der längst verstorbenen Familienmitglieder in der Nähe von London. Julia hat ihren Job aufgegeben, um sich der Archivierung all der Hausschätze, Tagebücher, Aufzeichnungen und Materialien zu widmen, die ihr Vorfahre, der Polarforscher Edward Mackley, hinterlassen hat. Der Plan: ein Katalog oder ein Buch soll entstehen. Der Marineoffizier hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Nordpol zu erreichen. 1897 lernt er seine Frau Emily kennen, 1899 startet er mit der Persephone und seiner Crew, Emily wird ihn bis Norwegen begleiten, Richtung Pol.
Nie wird er dort ankommen, nicht mal in seine Nähe. 600 Meilen vom Nordpol entfernt wird Edward Mackley im Januar 1902 als letzter der kleinen Expeditionsgruppe im Eis sterben. 1957 findet eine sowjetische Forschergruppe den fast konservierten Leichnam Mackleys. Die immer auffällige Emily hat auf ihren Edward bis zu diesem Zeitpunkt treu gewartet, eine gern weitergetragene Legende in der Familie. Ein Jahr später wird sie dann ruhig sterben.
Es ist ein heißer Sommertag. Julia stöbert auf dem stickigen Dachboden in den angestaubten alten Kisten, umkreist die ausgestopften Tiere, die Fernrohre, die Skiausrüstungen und blättert eher lustlos in den verblassten Aufzeichnungen ihres Urgroßonkels. Wie in Tagträumen durchbricht die gegenwärtige Handlung, die nur einen Tag umfasst, Szenen aus der Vergangenheit der Familie. Erzählt wird wie Edward und Emily sich kennengelernt haben, warum Tante Helen, die Tochter von Emilys Schwägerin Arabella immer wieder die abenteuerlichen Geschichten aus dem Eis hören wollte und weitererzählt hat und wie Emily ihre Tage als alternde Frau im Haus ihres Schwagers verbrachte. Lebenslang wohnte sie im viktorianischen Haus bei John, Edwards Bruder und das hatte auch einen Grund, den Julia im Laufe des Tages von ihrem Cousin, den sie zuletzt als Kind gesehen hat, erfahren wird. Das Geheimnis um Emily und ihre Familie wird die romantische Archivarin kurzzeitig aus der Bahn werfen, denn nichts scheint mehr so zu sein, wie sie es sich ausgemalt hatte.
Besonders anschaulich beschrieben sind die Augenblicke, in denen sich Julia Edwards zuerst so hoffnungsfrohe und dann immer mehr enttäuschende Zeit auf der Arktis widmet. Einst waren sie mit Vorräten für 100 Tage aufgebrochen, hatten sich blind durch Eisspalten und Abgründe getastet, sich im Schneesturm über Felsklippen gequält, die Gesichter voller Schorf und Frostbeulen. Sie hatten sich mit ihrer Körperwärme Gutes getan und sich zu zweit gegen alles Schamgefühl in Schlafsäcke gezwängt. Und immer wieder schreibt Edward trotz aller Widrigkeiten und gegen den Tod Tagebuch.
Spannend und zugleich berührend liest sich die Geschichte von der abenteuerlichen Expedition, die sich durch Edwards Unfähigkeit als Navigator oder ausfallende Instrumente, niemand weiß es, auf ein grausiges, unrühmliches Ende hinbewegt. Nie wurden seine Tagebücher veröffentlicht, nie sein wissenschaftliches Erbe anerkannt. Zu Emily kehrte kein strahlender Held zurück, sie musste alle ihre Hoffnungen bereits als junge Frau begraben. Aufregend sind die Frauenfiguren in diesem Roman. Zum einen die schillernde, sich für Lyrik und Theater interessierende, scheinbar ewig wartende Witwe, aber auch ihre farblose Schwägerin und natürlich die romantisch veranlagte Julia. Fast am Ende des Buches dreht sich die gesamte Geschichte um und plötzlich sieht der Leser alle Figuren, besonders die weiblichen, mit anderen Augen und Fragen.
Die britische Autorin Amy Sackville fächert geschickt Familiengeschichten auf und zeigt die Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern, in ihrer Nähe und unendlichen Entfernung. Immer wieder hinterfragt auch Julia ihre eigene kinderlose Beziehung zu Simon. Auch aus Simons Sicht, er scheint sich für eine andere Frau zu interessieren, beobachtet der Leser, der fast wie aus der Vogelperspektive auf die Geschehnisse schaut und von der Erzählerin aufgefordert wird doch näher zu treten, den Fortlauf des Tages.
Atmosphärisch dicht beschreibt Amy Sackville die Bilder dieses Tages, ob es um Julia und ihr fast museumsähnliches Haus handelt, die Innenwelt der Figuren nach außen gekehrt wird oder Edward und seine Männer sich durch Schnee und Eis über dem Ruhepol dahinbewegen. Doch die Kraft und Spannung der Erzählung, die Lebendigkeit der Figuren und der existentiellen Fragen lassen einen über die Lektüre hinaus nicht so schnell wieder los.
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