Polly Clark: Ocean – Gefangen im Blau, Aus dem Englischen von Ursula C.Sturm, Eisele Verlag, München 2025, 334 Seiten, €18,00, 978-3-9616-1258-1
„Alles war möglich. Dabei hatte ich diese Erfolgsstory in meinem kindischen Drang, Frank meine Geschichte zu beichten und ihn um Verständnis und Vergebung zu bitten, um ein Haar ruiniert. Doch all das war entbehrlich. Es ist möglich, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unter einen Hut zu bringen und sich das Leben so zu gestalten, wie man es haben will. Ich war stolz, Nicholas das zeigen zu können. Es steckt mehr als ein Leben in einem Leben.“
Helen und Frank Bell sind die Eltern des elfjährigen Nicholas und erwarten ihr zweites Kind. Beide sind beruflich erfolgreich und die Familie lebt ohne größere Probleme in einem Haus in London. Immer wieder erinnern sich Helen und Frank an ihre unbeschwerte Zeit vor der Sesshaftigkeit auf einem Segelboot namens Innesfree.
Als Helen, sie ist auch die Ich-Erzählerin, dann jedoch auf ihrem Weg nach Hause Opfer eines Bombenanschlags in der U-Bahn wird, gerät ihr Alltag und ihre Familienleben völlig aus den Fugen. Siebzig Tote sind zu beklagen, aber Helen wurde vom aufmerksamen James aus dem Schacht gerettet. Dieser fremde Mann wird nun für Helen zur Obsession. Sie schreibt ellenlange Briefe an ihn, der, nachdem der Krankenwagen kam, im Chaos verschwand. Mit größter Sorge und auch Wut reagiert Frank auf all die Geschehnisse, in dessen tragischem Verlauf Helen ihr Baby verliert. Nicholas hingegen vergräbt sich zum Ärger der Eltern immer mehr in seinen Computerspielen. Zwar konsultiert Helen, die unter starken Medikamenten am liebsten in einem Dauerschlaf entschwindet, eine Therapeutin, aber die Ehe rutscht immer mehr in die Krise. Frank arbeitet wieder in seiner Agentur, aber Helen hat kaum Energie, als Lehrerin an ihre Brennpunktschule zurückzukehren. Als dann eines Tages die sechzehnjährige Sindi, eine ihrer schwierigen Schülerinnen, vor der Tür steht und um Hilfe bittet, sieht Helen wieder eine Aufgabe für sich. Um Helen eine Freude zu machen, hat Frank ihr altes Segelboot, dass nun als Piratenschiff in einem Vergnügungspark für Kinder aufgestellt wurde, gesucht. Doch Helens Enttäuschung ist groß. Auch wenn Helen Frank versprochen hat, dass sie James vergessen wird, begibt sie sich wie eine Süchtige auf die Suche nach ihm.
An diesem Punkt der Geschichte kippt die Handlung ins märchenhaft Tragische. Denn kaum haben sich James und Helen in der Rushhour an der Station London Bridge gefunden und sich ihre Liebe gestanden, wird James von einem Auto überrollt. Mehr Dramatik ist einfach nicht möglich und aus diesem Grund auch unglaubwürdig oder nur Mittel zum Zweck, damit Helen und Frank nochmals ihr gemeinsames Leben überdenken und von vorn beginnen. Helen verschweigt den Unfall, sie kaufen ihr Segelboot, machen es seetüchtig, brechen alle Zelte ab, verkaufen das Haus und die Agentur und brechen nun zum großen Abenteuer mit Nicholas und auch Sindi in Richtung Weltmeere auf. Diese Reise soll die Ehe wieder kitten, Nicholas vom Computer wegholen und Sindi die Geborgenheit einer Familie geben. Allerdings baut dieser Segeltörn auf einer falschen Illusion und Lügen auf, denn auch Frank hat seine Geheimnisse. Schnell erkennen Helen und Frank, man kann zu seinem jugendlichen Ich nicht einfach so zurückkehren, auch wenn man eine völlig neue Lebensart gewählt hat. Dass diese Reise, auf der durch die Enge des Bootes niemand entfliehen kann und Konflikte ausgetragen werden müssen, tragisch enden wird, steht bereits beim ersten heftigen Sturm auf offener See fest.
Polly Clark interessiert sich vor allem für die finsteren Ecken der menschlichen Existenz und lässt ihre Protagonisten in tiefe Abgründe blicken.