Paula Hawkins: Die blaue Stunde, Aus dem Englischen von Birgit Schmitz, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2025, 368 Seiten, €22,00, 978-3-423-28454-7

„Er liest diese Zeilen wieder und wieder: Das ist es. Das muss es sein. Sie hat den Knochen gefunden und geglaubt, er wäre von einem Schaf oder Reh. Es hat damit nichts Seltsames oder Unheimliches auf sich. Becker lehnt sich in seinem Stuhl zurück und atmet auf. Er stellt fest, dass er erleichtert ist, ehrlich erleichtert – was bedeutet, dass er ihr in irgendeiner Weise misstraut haben muss. Wie dumm von ihm! Grace hat ja gesagt, dass es dumm sei, und sie hatte recht.“

Das Kunstobjekt Division II, eine Keramik mit einer Paarhuferrippe, von der vor fünf Jahren verstorbenen Vanessa Chapman, wird ausgestellt und plötzlich erhält die Fairburn-Stiftung, die Einrichtung, der die englische Künstlerin ihr Œuvre vermacht hat, eine E-Mail von einem Wissenschaftler. Er behauptet, in diesem Kunstwerk ist der Knochen nicht von einem Wildtier, sondern von einem Menschen. Alle sind in hellster Aufregung, insbesondere Sebastian Lennox, der privilegierte Inhaber der Stiftung und sein Mitarbeiter und Chapman-Experte, James Becker.
Vanessa Chapman hatte als Nachlassverwalterin, insbesondere für ihre Tagebuchaufzeichnungen, die Privatkorrespondenz und Arbeitsnotizen, ihre beste Freundin, die Ärztin Grace Haswell eingesetzt.
Aus den Perspektiven von Becker und Haswell, den undatierten Auszügen aus den Aufzeichnungen von Chapman und zeitlich versetzten Rückblenden erzählt Paula Hawkins nun diese rätselhafte Geschichte, die sich zum einen dem Leben einer unkonventionellen Künstlerin widmet, zum anderen der Beziehung zwischen Grace und Vanessa, die gemeinsam auf der einsamen Insel Eris wohnen. Vanessa hoffte, durch den Umzug von Oxfordshire auf die Insel ihre Freiheit zu finden. Bekannt allerdings ist auch, dass Vanessas Ehemann, der ständig fremdgehende Julian Chatman, 2002 verschwunden ist.
Grace, eine unscheinbare, treue wie arbeitsame Frau, ist nach dem Tod von Vanessa auf der Insel geblieben. Da die Fairburn-Stiftung glaubt, nicht alle Aufzeichnungen und auch Kunstwerke von Chapman bekommen zu haben, haben sie Grace mit Gerichtsprozessen überzogen. Sie ist somit auch nicht sonderlich freundlich, als James Becker bei ihr vor der Tür steht. Er will natürlich unbedingt die Aufzeichnung aus dem Jahr 2005 sehen, dem Jahr der Entstehung des Kunstwerkes mit dem Knochen. Nach und nach ergibt sich ein Bild vom Leben Graces mit Vanessa auf der Insel, aber auch eine Vorstellung von Beckers beruflichen Beziehungen zu Sebastian Lennox und seiner grantigen Mutter Lady Emmeline. Ihr verstorbener Mann, Douglas, hatte offensichtlich eine sexuelle Beziehung zu Vanessa und auch zum Ende ihres Lebens einen heftigen Streit über verschwundene Objekte, die in einer angekündigten Ausstellung gezeigt werden sollten. Alle waren sehr verwundert, dass Vanessa Chapman trotz dieser Konflikte letztendlich alles der Stiftung vermacht hat. Auch Becker fragt sich, warum gerade die anhängliche Grace finanziell nicht besser dasteht, zumal sie Vanessa bis zum Ende hin begleitet hat.
Alle diese Informationen fließen in die Handlung ein und immer bleibt hintergründig die Frage, zu welcher Person gehört nun der Knochen und wo hatte Vanessa ihn gefunden. Forensische Untersuchungen beginnen und schnell werden erste Verdächtigungen formuliert.
Doch was ist wirklich auf der Insel geschehen? Wie konfliktreich war vielleicht doch die Beziehung zwischen den beiden so unterschiedlichen Frauen? Und warum ist Vanessa ihrer Freundin unendlich dankbar und auch von ihr genervt?

Viele Fragen wirft Paula Hawkins in ihrem atmosphärisch genauen wie psychologisch gut konstruierten Roman auf und sie entwirft die Vorstellung vom Leben einer Künstlerin, die kaum autonom arbeiten kann. Wird die Identität des Knochens gelüftet, so liegt doch der Schwerpunkt nicht auf dem Kriminalfall, sondern auf den zwischenmenschlichen Konflikten, zum einen zwischen Grace und Vanessa, aber auch zwischen Grace und Becker, mit ungutem Ausgang.