Laura Lee Smith: Palmherzen, Aus dem Englischen von Eva Kemper, Dumont Verlag, Köln 2013, 512 Seiten, €19,99, 978-3-8321-9711-7
„Fragst du dich manchmal, ob du dich falsch entschieden hast?“
Sofia zog vielsagend die Augenbrauen hoch. „Ich denke ab und zu darüber nach. Über Entscheidungen.“ Sie wurde etwas leiser, und ihr Blick ging an Elizabeth vorbei ins Nichts.
Florida, März 1964: Die überaus attraktive, großgewachsene, rothaarige, ja vollkommene 18-jährige Arla Bolton will entgegen dem Willen der Eltern und obwohl sie viele weitere durchaus bessere Anwärter hätte, den leicht verruchten Dean Bravo heiraten. Er stammt aus dem sozial angeschlagenen Viertel Utina, sie aus dem besseren St. Augustine. Eine rasende Leidenschaft bindet die beiden so unterschiedlichen Liebenden aneinander. Doch der Wasserski-Unfall während der Flitterwochen ändert ihr Verhältnis. Arla verliert durch Deans Schuld die Zehen eines Fußes. Plötzlich kann Dean sie nicht mehr anschauen und Arla verliert trotz ihres souveränen Umgangs mit der Behinderung ein Stück Selbstvertrauen und Durchsetzungskraft. Sie ist nicht mehr vollkommen. Dean sucht in Utina eine heruntergekommene Villa als Heim für die Familie. Arla ist kaum begeistert, lehnt die Hilfe der Eltern stur ab, denn sie ist schwanger. Hat sie eine falsche Entscheidung getroffen und somit ein glückliches, erfülltes Leben verpasst?
Gut 40 Jahre später erzählt Laura Lee Smith aus der Sicht ihrer Protagonisten vom Leben der Bravos in Utina. Frank Bravo, der Sohn und die Stütze Arlas, leitet das von ihr aus dem schmalen Erbe der Eltern finanzierte Fischrestaurant. Sofia, Arlas älteste Tochter, putzt jeden Tag auf die Minute genau das Restaurant und lebt im ständigen Kleinkrieg bei ihrer Mutter. Sie ist psychisch angeschlagen, leicht reizbar und war in medizinischer Behandlung. Carson, der zweite Sohn, arbeitet als scheinbar erfolgreicher Immobilienhändler in St. Augustine, ist mit Elizabeth verheiratet und hat eine fünfjährige Tochter, Bell. Will, der jüngste Sohn, der Familie ist mit 15 Jahren durch einen tragischen Unfall verstorben.
Dean Bravo hat, obwohl er sich gut um seine Familie gekümmert hat, den Verlust des Lieblingssohnes nicht verkraftet und die Familie verlassen. Er entwickelt sich zum Alkoholiker, gibt sich selbst aus guten Gründen die Schuld am Tod des Sohnes. Arla hat auch nach 20 Jahren noch sporadisch Kontakt zu ihrem Mann. Die Zeiten sind im Umschwung, längst siedeln sich wohlhabende Juppies in Utina an, die ortsfremd versuchen die stark angewachsenen Palmen aus ihrem Garten ohne Erfolg zu entfernen. Die attraktive Lage Utinas am Meer lockt eine Baufirma aus Atlanta an, die einen großen Hafen und Luxusimmobilien bauen will. Alonzo Cryder überhäuft alle Bravos mit Angeboten für die Grundstücke und das Fischrestaurant. Es geht eindeutig um sehr viel Geld. Carson, der am allerwenigsten mit dem möglichen Verkauf zu tun hat, bearbeitet die Familie. Er erhofft sich einen finanziellen Anteil, denn durch eine Fehlinvestition steht ihm die Pleite ins Haus.
Als Montagedramaturgie wechselt die Autorin zwischen Rückblenden und fortlaufendem Handlungsbericht der erzählenden Gegenwart. Durch Arlas, Franks, Carsons und die weitere Perspektive anderer Protagonisten gewinnt der Leser einen tiefen Einblick in die seelischen Verwerfungen der Familie Bravo. Arla hat sich zu einer schwergewichtigen, ungeselligen Frau, die allen möglichen Krempel in ihrem Zimmer anhäuft, entwickelt. Sie lebt in dem ungeliebten Haus, das langsam vom Ungeziefer übernommen wird. Arla macht sich Sorgen um ihre Tochter, die längst ihr eigenes Glück gefunden hat. Carson findet mit Cryder seinen extrem gealterten Vater und hofft mit ihm, die Mutter, die sich vehement gegen den Verkauf sperrt, zu überreden. Carsons Ehe wankt, denn Elizabeth findet heraus, dass ihr Ehemann diverse Verhältnisse hat. Sie zieht mit ihrer Tochter zu Arla und erinnert sich daran, dass ihre erste große Liebe eigentlich Frank war.
Die Handlung eskaliert als klar wird, dass Dean, der immer noch mit Arla verheiratet ist, sich den Bärenanteil des Gewinns aneignen will. Als Arla unerwartet verstirbt, verschweigt er seinen Söhne und der Tochter den vorzeitigen Termin zur Unterzeichnung der Verkaufsurkunde. Frank wird klar, er hat sich wieder keine Gedanken um die Zukunft gemacht, wieder hat er geglaubt, Arla würde schon für die Familie sorgen. Ein Fiasko bahnt sich an oder ist Dean doch ein anderer Mensch geworden?
Das Debüt von Laura Lee Smith ist geprägt vom unsentimentalen Blick auf den Zustand menschlicher Beziehungen. Die amerikanische Autorin vermag es, plastische Szenen voll prallen Lebens zu schildern. So zieht sie den Leser vom ersten Satz an in diesen aufregend geschriebenen, auch erzählerisch ausufernden Roman hinein, denn es geht um alles, was Familie ausmacht: Zuneigung, Vertrauen, Hass, Einsamkeit, Zusammenhalt, Loyalität, Verrat und auch Schuld. In ihrem Debüt schildert die Autorin atmosphärisch dicht nicht nur das Kleinstadtleben mit all seinen auch skurrilen Figuren, sie zieht alle Register, um ihre durchaus ambivalenten Figuren genau zu charakterisieren, ohne sie bis zum Ende zu ergründen. Ihr Modus des Schreibens ist jener der Beobachtung und nicht der Bewertung. Die überlässt sie dem Leser und das ist das Entscheidende.
Laura Lee Smith hat einen Roman geschrieben, auf den man sich gern einlässt, denn er bleibt spannend bis zum letzten Satz, ist lebensnah und voller Wendungen, die nur das Leben schreiben kann.
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