Vea Kaiser: Makarionissi oder Die Insel der Seligen, Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2015, 464 Seiten, €19,99, 978-3-462-04742-4
„Selbst in den größten Krisen hatten sie das Grundvertrauen geteilt, stets ein wichtiger Mensch im Leben des anderen zu sein. Doch nun sahen sie sich an und stellten wortlos fest, dass nichts mehr war wie früher. Lefti war kein Teil mehr von Elenis Leben, und Eleni war kein Teil mehr von Lefits.“
Hoch in den Bergen an der griechisch-albanischen Grenze liegt Varitsi, ein Dorf in dem noch die jahrhundertealten Regeln gelten. Vom Aberglauben beeinflusst sieht Großmutter Maria die Zeichen falsch und forciert einen Komplott, der zwei Menschen nicht glücklich machen wird. Cousin und Cousine, Lefti und Eleni, werden gezeugt, um später zu heiraten und das Erbe sichern. Als Kinder eng verbunden trennen sich ihre Wege als Lefti mit zwölf Jahren Freiheiten erhält, die die jüngere Eleni nie haben wird. Sie kassiert für ihr Temperament und ihren Gerechtigkeitssinn eher Ohrfeigen. Schon früh schreit Eleni allen, die es hören wollen in die Ohren, dass sie Lefti nie heiraten würde. Sie will eine Amazone sein, eine Heldin wie in den Geschichten der Großmutter. Lefti jedoch fügt sich allem, was die Familie von ihm erwartet. Als die Militärdiktatur Griechenland beherrscht landet Eleni für ihre linke Gesinnung sogar im Gefängnis. Sie ahnt, sie kann ihrer Herkunft nur entfliehen und frei leben, wenn sie Lefti heiratet und mit ihm nach Deutschland geht.
Die Lebenswege und Glückserwartungen dieser zwei so unterschiedlichen Menschen verfolgt die österreichische Autorin Vea Kaiser bis in unsere Gegenwart. Immer die Perspektiven wechselnd erzählt sie atmosphärisch dicht und vor allem sehr nah an ihren Figuren.
Wird die Welt für Lefti und Eleni immer größer, so verkleinert sich ihr Dorf. Lefti ahnt, dass er eigentlich nie mehr zurückkehren möchte. Das junge Paar, das sich wenig zu sagen hat, landet nun in Hildesheim, weil Lefti einen Arbeitsvertrag in der Gummifabrik unterschrieben hat. Eleni kann das „Nein“ der Deutschen, das sehr oft zu hören ist, zu Beginn nicht verstehen, aber mit der Zeit ist sie auch gegen alles, gegen Atomkraft, gegen die Diktatur. Sie engagiert sich bei Griechen e.V.. Lefti dagegen hat sich gegen die Politik entschieden, denn die Querelen der Kommunisten und der Königstreuen in seinem Dorf sind ihm noch gut in Erinnerung.
Eleni verliebt sich in einen Deutschen, den Musiker Otto aus Bayern und Lefti findet seine große Liebe in Trudi, seiner Deutschlehrerin. Als Eleni jedoch von Otto schwanger wird, will er das Kind nicht. Gegen alle Vorbehalte kehrt Eleni in ihr Dorf zurück, um ihr Kind in einer bitterkalten Nacht zu gebären. Sie behauptet vor den Familien, dass es Leftis Kind sei und er sie verlassen habe. Daraufhin löst sich die Familie von Lefti, eine Entscheidung, die ihn hart trifft.
Längst geschieden, Eleni hat ihre Tochter Aspasía bei der Mutter gelassen, geht Lefti mit Trudi nach St. Pölten, ihrem Heimatort. Hier hat sie ein Haus geerbt und beide eröffnen ein griechisches Restaurant.
Als Eleni bereits drei Jahre in Chicago lebt und langsam versteht, dass sie nichts in ihrem Leben erreicht hat, heiratet sie einen in den USA reich gewordenen Griechen im Alter ihres Vaters, Milton. Sie will endlich mit ihrer Tochter zusammenleben. Milton liebt Aspasía vom ersten Augenblick an. Er entschließt sich mit Frau und Kind auf seine Heimatinsel Makarionissi zurückzukehren, dort ein Hotel zu bauen und alt zu werden. Eleni holt mit ihrer Energie aus den Männern, mit denen sie lebt, immer das Beste heraus. Otto hat sie zu guten Texten inspiriert und Milton zum Führen eines gut laufenden Hotels. Auf der Insel jedoch genießt Eleni einen seltsamen Ruf. Sie steht für die Moderne. Sie sorgt dafür, dass ein ordentlicher Lohn gezahlt wird, energiesparend gebaut wird, die Mülltrennung ist ihr wichtig und sie kämpft gegen den Aberglauben. Als Milton zu früh an Herzversagen stirbt, finden Eleni und Aspasía keinen Weg der Verständigung. Aspasía wird minderjährig schwanger und bekommt Zwillinge. Die Jungen sind der Augenstern der Großmutter. Einen wird es auf seinem Weg in die Schweiz weit fort von der Familie ziehen. Auch hier hat die kluge wie sture Eleni ihre Finger im Spiel.
Vea Kaiser ist eine sprachlich ausufernde und doch konzentrierte Erzählerin, die ihre Romanhandlung über mehrere Generationen hinweg zwischen Tradition und Moderne konzipiert hat. Sie hält alle Fäden in der Hand und verknüpft sie geschickt und klug. Als Leser taucht man tief zwischen Ernsthaftigkeit aber auch Situationskomik in die Mentalitäten und Rollenvorstellungen der griechischen und griechisch-deutschen Familien ein, in die Kämpfe, Streitereien und vor allem auch Versöhnungen. Aufgebaut wie der Gesang der Ilias erzählt die Autorin von den Irrfahrten ihrer Helden, den Höhepunkten und Niederlagen.
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