Lidia Ravera: Sprich mit mir, Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 367 Seiten, €24,00, 978-3-498-00294-7
„Ich bin eine alte Frau und an Einsamkeit gewöhnt.
Ich trinke viel.
Gelegentlich nehme ich Psychopharmaka.
Ich habe neun Jahre im Gefängnis gesessen.“
Die alte Giovanna mit ihrem schlohweißen, langen Haar zwingt sich selbst, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Die Sechsundsechzigjährige quält sich, will aufgeben und schreibt doch immer weiter. In ihrer Wohnung am Stadtrand von Rom erinnert sie sich an ihre Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben kamen und ihr eigenes tragisches Leben, dass von den politischen Ereignissen bestimmt wurde, der „bleiernen Jahre“ von 1968 bis in die frühen 80er, als Italien von Gewalt und Terror erschüttert wurde. Dem völligen Schweigen und der Einsamkeit mit wenig Geld, zu viel Wein und vielen Büchern ergeben, lebt Giovanna ein künstliches Leben.
„Ich bin die schweigsame Soziopathin aus dem dritten Stock.“
Doch dann ziehen neue Mieter in die Nebenwohnung ein und Giovanna wird aus ihrer Lethargie herausgerissen. Ohne es zu wollen, verliebt sich die stille Frau in die Kinder, die dreijährige Malvina, den dreizehnjährigen Malcolm, einen strenggläubigen Vegetarier und deren Eltern, Maria und Michele. Michele ist der Vater von Malcolm, dessen Mutter in den USA lebt. Als Maria um Giovannas Hilfe bittet, sich um die Kinder zu kümmern, schafft sie es nicht, sich wie schon so oft bei Begegnungen mit Fremden zurückzuziehen. Marias freundliche und offene Art bezaubert die alte Frau. Welche Lebensgeschichte Giovanna zu erzählen hat, interessiert Maria kaum, denn sie ist viel zu sehr mit ihrer Arbeit und ihren Freundinnen beschäftigt. Und sie ärgert sich über Michelle, der mit seiner Band einfach viel zu lang auf Tournee ist.
Äußerst liebevoll erfindet Giovanna für Malvina kleine Geschichten, um sie zu unterhalten und mit ihr zu spielen. In ihren Erinnerungen ploppen Bilder von ihrem einzigen Ehemann auf, ihrer Zeit in der Illegalität und in heimlichen Verstecken und der Zeit ihrer Schwangerschaft. Doch dieses Kind will Giovanna nicht versorgen und hat es vor siebenunddreißig Jahren zur Adoption freigegeben.
Alles Verdrängte scheint durch den Einzug der Familie nebenan wieder hochzukommen. In einem kleinen Notizbuch schreibt Giovanna all ihre Beobachtungen auf.
Und dann taucht der Großvater von Malvina, Pietro, auf, der eher den Ruf hat, ein allzu großer Frauenversteher zu sein. Seine argentinische Frau jedoch scheint ihn gerade zu verlassen. Giovanna und Pietro mögen sich und beginnen sogar einen E-Mail Verkehr. Doch als Giovanna mit Malvina dann sogar zu Pietro auf seine Insel reist, kippt die Geschichte ins Tragische.
Die langsam aufgeblühte Giovanna belauscht ein Gespräch, dass Pietro mit seinen Freunden führt und erzählt, dass er sie sofort erkannt hat. Er weiß um ihre politisch extrem motivierte Vergangenheit und ihre Haftstrafe. Was sie ihm nach ihrer sofortigen Abreise noch mitteilt, ist, dass sie nie einen Menschen getötet habe. In ihrer Verzweiflung jedoch glaubt Giovanna, dass sie nun ihrem eigenen Leben, auch durch den Rückfall in die Einsamkeit, ein Ende setzen müsste. Doch zum Glück wendet sich die Geschichte um diese doch so stolze Frau zum Guten.
Nah an der Ich-Erzählerin setzen sich die Lesenden ein Bild von einem Menschen zusammen, der in seinem Leben in jungen Jahren einem klaren Ziel gefolgt ist und doch letztendlich gescheitert ist.
Im Rückzug allein sieht Giovanna ihre Perspektive und erkennt durch die Begegnung mit den Nachbarn, was sie alles versäumt hat. Der Gedanke an ihre Jugendfreundin Laura lässt sie nicht mehr los und an das Kind, das sie nie sehen wollte.