Leonardo Padura: Anständige Leute, Aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Unionsverlag, Zürich 2024, 400 Seiten, €26,00, 978-3-293-00621-8
„Dass man den Staat bestahl, machte einen offenbar noch lange nicht zum Dieb. So lief es hierzulande, beziehungsweise so weit hatte man es kommen lassen. Und da zerbrach er sich den Kopf über die Bedeutung des so vielfach strapazierten Wortes ‚Anstand‘ ….“
Mario Conde steht wieder im Mittelpunkt der Ermittlungsarbeiten in diesem äußerst düsteren Krimi, obwohl der nun über Sechzigjährige seit Jahren nicht mehr für die Polizei tätig ist. Gut zehn Jahre hat er es im Staatsdienst ausgehalten, um sich dann als Buchhändler durchs Leben zu schlagen. Doch auch die Buchbranche ist wie so vieles in der Krise und so hilft Conde bei seinem ehemaligen Geschäftspartner im neu eröffneten Restaurant „La Dulce Vida“ etwas aus. Er soll insbesondere des Nachts auf die Gäste achten und dafür sorgen, dass das Restaurant nicht zum Drogenumschlagplatz wird. Zumal demnächst Barak Obama zum Staatsbesuch antritt und auch die Rolling Stones ein Konzert geben werden, dabei mag Conde eher die Songs der Beatles. Und dann bittet auch noch Condes ehemaliger Kollege Manuel Palacios um Condes Expertise, denn ein Toter wurde gefunden und dieser Fall könnte kompliziert werden.
Leonardo Padura taucht tief in die Geschichte seines gebeutelten Landes, aus dem die meisten Menschen ausreisen wollen, ein und erzählt auf zwei Ebenen. Zum einen aus der personalen Erzählperspektive erfahren die Lesenden von den Geschehnissen in Havanna im Jahr 2016, zum anderen berichtet der Ich-Erzähler Arturo Saborit Amargó von seiner Polizeiarbeit am Beginn des 20. Jahrhunderts. Bei diesen Ausführungen handelt es sich um Condes eigene Recherchen und seinen verfassten Text.
Der sechsundachtzigjährige Reynaldo Quevedo wurde in seiner eigenen, großzügig geschnittenen Wohnung verstümmelt und ermordet. Bekannt als gnadenloser Bluthund hatte Quevedo als fanatischer Stalinist in seinen besten Zeiten Künstler und Künstlerinnen auf ihre „ideologische Reinheit“ geprüft. Zum einen versuchte er, sie als Spitzel anzuwerben, zum anderen hat er für Arbeitsverbote gesorgt und ganze Leben zerstört. Verbürgt sind sogar Selbstmorde. Dass Conte nun in der Wohnung des Toten bekannte Gemälde von Malern entdeckt, denen Quevedo das Leben zur Hölle gemacht hat, sorgt erneut für seine depressive Stimmung. Wurden nicht nur Menschen verfolgt, die der Kulturpolitik nicht passten, so gehörten zu ihnen auch Homosexuelle. Bei der Untersuchung der Leiche stellt sich nun heraus, dass Sperma im Rectum des Toten gefunden wurden und fremde DNA in den Fingernägeln. Zu allem Horror hatte der Täter Quevedo auch noch den Penis abgeschnitten. Auch die zweite Leiche, die auf einer Müllhalde auftaucht, wurde so geschändet. Bei ihr handelt es sich um Quevedos Ex-Schwiegersohn Marcel Robaina, der als Angeber und Schwätzer immer behauptete, er würde für die Staatssicherheit arbeiten, aber nun schon länger in Miami lebt.
Conde wechselt nun ständig zwischen seinen zwei Jobs hin und her. Außerdem will seine Freundin Tamara zu ihren Kindern nach Italien reisen und auch das macht Conde Sorgen. Er sieht sein Havanna mit kritischen Augen, registriert, wenn er in die Wohnungen der Befragten geht, die Armut der Menschen und bemerkt, dass wirklich niemand von seinen Einkünften gut leben kann. Nichts in Havanna ist für Conde pitoresk, wie es wahrscheinlich die Touristen erleben. Sogar der einstige Staatsdiener Quevedo verkauft seine wie auch immer ergaunerten Gemälde nach und nach, um sein Leben finanzieren zu können. Doch wer sind, so fragt sich Conde, die Kubaner, die in den teuren Restaurants ein Getränk nach dem anderen bestellen können?
In Condes eigener schriftstellerischen Arbeit beschäftigt er sich ebenfalls mit einem Polizisten, der 1910 – alle haben Angst vor dem Halleyschen Kometen – nach Havanna kommt und sich in dieser Endzeitstimmung mit dem stadtbekannten Bordellbesitzer, Alberto Yarini, anfreundet. Warum Yarini sich gerade den unbedarften, so ehrlichen Arturo Saborit Amargó aussucht und ihn mit seinem Lächeln manipuliert, wird sich im Laufe der grausigen Geschehnisse herausstellen. Auch Arturo fragt sich, wie man als Polizist eigentlich anständig bleiben kann. Arturo befasst sich mit den brutalen wie abstoßenden Morden von zwei Prostituierten, die mit einer Machete zerstückelt wurden.
Bei seinen aktuellen Mordfällen arbeitet Conde nun mit dem technikaffinen Teniente Duque zusammen. Alle Befragungen der Familienmitglieder von Quevedo, einschließlich der Haushälterin und ihres Enkels, der offenbar auch noch der Stricher des homosexuellen Quevedos war, führen zu keinen Ergebnissen. Conte ist sich sicher, dass diese Morde, allein wie sie ausgeführt wurden, Racheakte waren. Und dann stellt sich heraus, dass Quevedo und Robaina an einem lukrativen Geschäft interessiert waren. Es ging um den echten Siegelring von Napoleon, der angeblich käuflich zu erwerben sei. Der Verkäufer lockt so seine Opfer in die Falle. Oder hat auch noch die Russenmafia ihre Finger im Spiel?
In ausführlichen Exkursen führt Leonardo Padura interessierte Lesende in unterschiedliche Epochen seines Landes ein und hadert bei allen fiktiven Elementen des Romans mit den aktuellen Zuständen. Diejenigen, die Anstand und Würde bewahren konnten, sind eindeutig in der Unterzahl. Das schmerzt nicht nur den schreibenden Conde, sondern auch seine Freunde, die zum Glück trotz längerem Aufenthalt wieder nach Kuba zurückkehren.
Keine leichte Lektüre, aber sehr lohnenswert!