Jodi Picoult: Kleine große Schritte, Aus dem Amerikanischen von Elfriede Peschel, C.Bertelsmann Verlag, München 2017, 592 Seiten, €20,00, 978-3-570-10237-4
„Aber ich weinte nicht wegen Davis Bauer, auch nicht wegen meiner eigenen Unehrlichkeit. Ich weinte, weil Kennedy die ganze Zeit über recht gehabt hatte – es kam wirklich nicht darauf an, ob die Krankenschwester, die sich um Davis Bauer kümmerte, schwarz, weiß oder violett war. Es kam nicht darauf an, ob ich versucht habe, dieses Baby wiederzubeleben oder nicht. Nichts davon hätte etwas geändert.“
Davis Bauer, ein drei Tage altes Baby, stirbt und alle sind betroffen. Die Eltern suchen nach einem Schuldigen und schnell ist dieser auch ausgemacht: die einzige schwarze Hebamme und Säuglingskrankenschwester am Mercy-West-Haven Hospital, Ruth Jefferson. Noch einen Tag zuvor hatten die Eltern von Davis, Anhänger der White Power – Bewegung, die Vorgesetzte von Ruth darauf hingewiesen, dass sie nicht möchten, dass eine Farbige ihren Sohn berührt. Ein Zettel auf Davis Akte untersagt Afroamerikanern, sich dem Kind zu nähern. Als es zu Komplikationen kommt und nur Ruth sich in der Nähe von Davis aufhält, greift sie entgegen der Anordnung ihrer Vorgesetzten ein. Später wird sie aus Angst behaupten, sie hätte erst geholfen, als sie die Anweisung bekam.
Aus drei verschiedenen Perspektiven blickt Jodi Picoult auf diesen Gerichtsfall. Zum einen erzählt die vierundvierzigjährige Ruth aus ihrer Sicht, was im Laufe der Zeit passiert ist. Sie erinnert sich, wie sie immer versucht hat, durch Bildung und Engagement den sogenannten Weißen gleich zu sein und alle Demütigungen hatte sie hingenommen, die Menschen ohne nachzudenken äußern, ohne latent rassistisch zu sein. Sie wollte gern, dass ihr 17-jähriger Sohn in einer weißen Umgebung aufwächst, alle Chancen hat. Aus dem Blickwinkel von Kennedy McQuarrie wird ebenfalls berichtet. Sie ist die Anwältin, die Ruth vor der Grand Jury vertreten wird, denn der Vater von Davis erhebt Anklage wegen versuchten Mordes. Auch er kommt zu Wort.
Angereichert mit Familiengeschichten, diversen Hintergrundinformationen und Schilderungen aus dem Leben aller drei Hauptfiguren steuert die Handlung auf einen klassischen Prozess zu. Für Ruth bricht ihr gesamtes Lebensmodell zusammen. Sie hat sich zwanzig Jahre im Beruf nichts zu schulden kommen lassen, aber die Krankenhausleitung wiegelt alles ab und schiebt die angebliche Verfehlung der Mitarbeiterin zu. Kennedy übernimmt die Verteidigung und versucht Ruth zu erklären, dass sie auf keinen Fall die Rassismuskarte spielen dürften. Fakten müssen für Ruths Verhalten sprechen und zum Glück ein Beweis, der seltsamerweise aus den Akten verschwunden ist und doch belegt, dass Davis eine Krankheit hatte, an der er, ein Verschulden des Krankenhauses, des Labors, der Ärzte, sterben musste. Aber Ruth kann einfach nicht begreifen, dass die anderen nicht sehen, warum gerade sie auf der Anklagebank sitzen muss. Sie will endlich sprechen und sich verteidigen dürfen. Nach und nach kann sie Kennedy die Augen öffnen und ihr verdeutlichen, wie anders die Lebenserwartungen der Weißen und Schwarzen in einem Land voller Vorurteile, Rassismus und Privilegien sind. Als Ruth Kennedy zu einem Einkauf einlädt, versteht diese nicht, warum sie mitkommen soll. Am Ende weiß sie warum, alle Leute können das Geschäft verlassen, nur Ruth wird als einzige kontrolliert, weil sie schwarz ist.
Empörend ist das Unrechtsbewusstsein der Polizei, die Ruth, die sich nicht mal anziehen darf, mit brutalster Gewalt im Nachthemd und in Ketten auf die Wache schleifen.
Viele dieser Szenen aus dieser Geschichte bleiben dem Leser im Gedächtnis haften, denn Jodi Picoult kann anschaulich und atmosphärisch dicht erzählen. Immer wieder thematisiert sie den schmalen Grad, auf dem Menschen glauben, sich politisch korrekt zu verhalten. Zum einen versucht Ruth durch ihr Wohlverhalten im Gegensatz zu ihrer Schwester, sich einen anerkannten Platz in der Gesellschaft zu erobern. Gleichzeitig spürt sie aber oder man lässt sie spüren, dass sie nie dazugehören wird. Zum anderen gaukelt sich die Menge vor, niemals rassistisch zu denken oder zu handeln und doch tut sie es ununterbrochen. Mag das Ende, vor allem der Blick in die zurückliegende Biografie von Davis‘ Mutter und der Sinneswandel des Kindesvaters, zu konstruiert erscheinen, verdeutlicht diese bewegende Geschichte Ruths, wie passiver und aktiver Rassismus instrumentalisiert wird und funktioniert.
Angesichts der Ereignisse in den USA, in denen ein Präsident sich bei rassistischen Übergriffen eher auf die Seite der weißen Bevölkerung schlägt und in Europa ein beunruhigender Nationalismus gegen Minderheiten um sich greift, ein wichtiges Buch.
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