Katja Keweritsch: Das Flüstern der Marsch, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2025, 484 Seiten, €26,00, 978-3-455-02015-1
„Immerhin kannte Janne Omas Listen und hatte diese seltsame Geschichte mit dem Bettlaken erzählt. Durch Stefan und das Dorf war sie viel vertrauter mit dem ganzen Tratsch. Gemeinsam konnten wir womöglich herausfinden, welchen Einfluss Omas und Opas verheimlichte Vergangenheit auf unser aller Gegenwart ausübte.“
Kurz vor dem 80. Geburtstag von Karl Hansen verschwindet seine Ehefrau Annemie. Die Siebenundsiebzigjährige hat weder eigenes Geld noch ein Handy, ihr Freundinnenkreis existiert eigentlich nicht, obwohl sich Annemie bei den Landfrauen und in Naturvereinen engagiert. Enkelin Mona sorgt sich um die Oma, wohingegen Opa Karl, einstiger Bürgermeister im kleinen Ort in der Marsch in der Nähe Hamburgs, nur kümmert, was die Leute wohl sagen könnten. Die Zwillingsbrüder und Söhne und von Karl und Annemie, Sven und Stefan, wollen mit der Polizei sprechen, obwohl auch sie glauben, die Mutter sei bei einer Freundin. Monas Mutter Sabine, zu der sie ein gespanntes Verhältnis hat, weilt im Ausland.
Katja Keweritsch erzählt ihre ausufernde Geschichte von einer dysfunktionalen Familie mehrstimmig über den langen Zeitraum von 1964 bis heute. Aus der personalen Erzählperspektive kommen Annemie, Janne, die Frau von Stefan, und Freya, deren Rolle im Familienspektrum der Hansens erst am Ende geklärt wird, und Mona als Ich-Erzählerin zu Wort. Handlungsort ist die Marsch, eine Landschaft, die die Autorin hingebungsvoll und kischfrei beschreibt.
„Die Marsch strahlte Ruhe aus, eine besondere Form von Erhabenheit. Vielleicht weil sie einem das Gefühl gab, stets den Überblick behalten zu dürfen. …
Wir stiegen auf den Deich und die Landschaft weitete sich vor unseren Augen. Gras, Rohrkolben, Flatterbinsen, Schilf, Pestwurz, Gänseblümchen und Löwenzahn bis zum Horizont. Dazwischen kleine Haine aus Korbweiden, Weißdorn, Pappeln, Eschen und Erlen. Hinter dem Land strömte der Fluss, ruhig und klar. Die Haseldorfer Binnenelbe trennte hier das Elbvorland des Bishorster Sand von der Marsch.“
Niemand in der Familie Hansen ahnt etwas von den Geheimnissen, die die Eheleute teilen. Nach außen wird der Schein gewahrt, aber in Wahrheit führen die Hansens, die auf die diamantene Hochzeit zugehen, nur eine Vernunftehe. Dem Zeitgeist und den gesellschaftlichen Konventionen geschuldet muss Annemie auf ihr erstes Kind, das sie mit neunzehn Jahren bekommt, verzichten. Vom Lehrer geschwängert, er wird einfach nur versetzt, übernimmt das Jugendamt die Fürsorge, da Annemies Vater die Vormundschaft ablehnt. Ein tiefer Schmerz überschattet Annemies Leben. Die arrangierte Ehe mit Karl, er ist eher in Geli verliebt, bleibt unglücklich, denn Karl will auf keinen Fall mit Annemie über das verlorene Kind sprechen. Hat sich Annemies Herz durch den Verlust sehr verhärtet, so folgt sie in ihren Erziehungsmethoden auch noch dem berüchtigten Ratgeberbuch von Johanna Haarer, die eher der schwarzen Pädagogik anhing und das sogar in der Bundesrepublik bis 1987 verlegt wurde.
Als Gegenpart dazu schauen die Lesenden in den Alltag von Janne, die mit Stefan drei Kinder bekommen hat. Fanny ist noch ein Baby, aber Milan und Ansgar sind Kleinkinder, die die Mutter auf Trab halten. Die bedürfnisorientierte Erziehung der Kinder bringt Janne, die auch noch in den sozialen Medien als Influencerin aktiv ist, an ihre Grenzen. Als dann auch noch der Vermieter für ihr Haus Eigenbedarf anmeldet und Stefan zu den Eltern ins Haus ziehen will, und Janna die gesamte Vorbereitung für die Geburtstagsfeier übernimmt, bricht sie zusammen.
Nach und nach, auch durch Monas Recherchen und ihre Wiederbegegnung mit ihrem alten Jugendfreund Jon, setzt sich ein Bild von einer Familie zusammen, in der jeder eigene Traumata weitergibt, seine ganz eigene Rolle gefunden hat, und diese auch brav spielt. Nur Mona scheint ihre Großeltern wirklich zu lieben und nur sie will wissen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Denn auch der schweigsame und emotionslose Karl, und das hat mit Freya zu tun, hat vor seiner Familie so einiges verborgen.
Sogartig zieht Katja Keweritsch die Lesenden in diese literarisch bewegende Familiengeschichte hinein und sie schafft es, ambivalente Figuren lebendig werden zu lassen, deren Schicksale bis zur letzten Seite bewegen.
Großes Leseerlebnis!