Katharina Köller: Wild wuchern, Penguin Verlag, München 2025, 208 Seiten, €22,00, 978-3-328-60392-4
„Aber ich kann nicht anders. Ich kann nicht. Weil ich bin jetzt auch nicht mehr dieser fanatische People Pleaser, der ich noch vor Kurzem war. Ich habe mich selbst aus meinem Blumentopf gerissen und begonnen, wild zu wuchern. Und deswegen zerstör ich die Stimmung jetzt, und es tut mir überhaupt nicht leid.“
Maries Worte klingen nach und verraten, dass etwas mit ihr geschehen ist, seit sie ihre exklusive Wiener Wohnung, die offenbar mit Blut beschmutzt ist, verlassen hat.
Katharina Köller erzählt im Präsens und so spüren die Lesenden die existentielle Angst Maries und sind nah am Geschehen. Maries Flucht führt sie hoch in die Tiroler Berge in eine Berghütte, in der ihre Cousine Johanna als Eremitin mehr schlecht als recht lebt. Sie versorgt ein paar Ziegen und hat sich ganz der Natur und ihrem Kreislauf ergeben. Zwei Welten prallen somit aufeinander, denn die selbstbewusste Marie hat nach der Schule ihr Zuhause schnell verlassen, hat studiert und beruflich erfolgreich als Designerin einen Mann getroffen, der ihr finanziell wohl alles bieten kann. Die introvertierte, ja fast autistisch wirkende Johanna hingegen suchte ihren Weg in die innere Freiheit weit fort von ihren Eltern in der Bergregion. In Rückblenden erinnert sich Marie an das Leben mit der Cousine, die immer wortkarger wurde und bis zum Tod des von Marie verhassten Großvaters an seiner Seite lebte. Da die Mütter von Marie und Johanna als Schwestern engen Kontakt hielten, wurden die Mädchen ständig verglichen. War Marie das Goldkind, die Goldmarie, so schob man Johanna den Part der Pechmarie zu. Marie hatte als Kind diese Berghütte gehasst. Die Mäuse, die nachts über die Matratzen flitzten, die Weberknechte an den Wänden und die Abneigung des Großvaters setzten ihr zu. Doch nun kann Marie nicht mehr in ihr kulturell erfülltes, wie unberechenbares Leben zurückkehren, denn etwas Grausames muss geschehen sein. Johanna ahnt, dass Maries Mann sie geschlagen hat, denn die Verletzungen im Gesicht konnte sie nicht verdecken. Nach und nach passt sich Marie dem rauen Leben in den Bergen an, hilft Johanna sogar beim Dachdecken und Mähen. Doch warum hat sich Johanna in dieses Schweigen zurückgezogen? Warum sucht sie diese Einsamkeit für sich, aus der sie Marie nach kurzer Zeit verjagen will? Was haben Erwachsene diesen Mädchen angetan, dass sie ihren eigenen selbstbestimmten Weg nicht finden? Verraten sei, Marie wird vieles hinter sich lassen und beginnen sich von den gesellschaftlichen Erwartungen und der inneren Stimme ihres Mannes, der sie unendlich gedemütigt hat, zu befreien. Sie wird „wild wuchern“ und endlich frei atmen. Auch Johanna spricht zum ersten Mal von traumatischen Erfahrungen.
In einer einfühlsamen, klaren Sprache durchsetzt mit Passagen im Wiener Dialekt zieht Katharina Köller die Lesenden in die Geschichte in diesen Selbstfindungsprozess dieser beiden auf ihre Weise starken Frauen hinein und fasziniert durch die atmosphärisch genauen Beschreibungen der unfassbar imposanten, aber doch zum Überleben harten Natur.