Karin Slaughter: Dunkle Sühne, Aus dem amerikanischen Englisch von Fred Kinzel, HarperCollins Verlagsgruppe, Hamburg 2025, 560 Seiten, €24,00, 978-3-3650-1104-1
„Es gab vieles, was Emmy in diesem Moment hätte sagen können, aber nichts davon würde Paisley Walker helfen. Jude war seit einer Stunde in der Stadt, und sie hatte bereits mehr aus Elijah Walker herausbekommen als Emmy. Es war jetzt nicht die Zeit, um neue Wunden zu schlagen.“
North Falls, eine Kleinstadt irgendwo in Georgia, und die Abgründe ihrer Bewohner stehen im Zentrum von Karin Slaughters neuem Roman. Man geht brav in die Kirche und was nicht genehm ist, wird vertuscht. Sogar der langjährige Sheriff Gerald Clifton scheut nicht davor zurück, im Sinne der Stadt und seiner weitverzweigten Familie ein Auge zuzudrücken.
Seine sympathische Tochter Emmy, zweite Hand des Vaters und Deputy, wird ständig mit Nachrichten von ihren diversen Cousinen überhäuft und ihr leichtsinniger und offenbar arbeitsscheuer Mann Jonah macht ihr das Leben zur Hölle. Ihre einzige Freude ist ihr elfjähriger Sohn Cole, der im späteren Verlauf der Handlung ebenfalls beruflich zur Polizei gehen wird.
Als dann am Abend des 4. Juli Madison und Cheyenne, enge Freundinnen und fünfzehn Jahre alt, entführt werden, bricht das Unglück über die Stadt herein. Je tiefer Emmy in den Biografien der Teenager gräbt, um so mehr erfährt sie, über streng erzogene Kinder, die sich für Sex verkauft haben und Drogen konsumieren. Aus Madisons Blickwinkel jedoch wissen die Lesenden mehr als die Polizei. Sie hofft darauf, dass sie gemeinsam mit Cheyenne, in deren Zimmer Emmy extrem viel Geld findet, in Kürze die Stadt und ihre Familie verlassen wird. Doch dazu wird es nicht kommen, denn Emmy wird den angeblichen Mörder, Adam Huntsinger, der noch bei seinen Eltern wohnt und Gelegenheitsarbeiten bei Emmys Tante Millie ausführt, und die Leichen der Mädchen finden.
Im zeitlichen Abstand von zwölf Jahren setzt dann die Handlung wieder ein. Der verurteilte Adam kann kurzzeitig seine Todeszelle verlassen, da herausgefunden wurde, dass er zum Zeitpunkt der Morde an den Mädchen eine gewisse Barbara Jericho vergewaltigt hat. Ein neues Verfahren steht an und Adam kehrt nach North Falls zurück. Beim Aufruhr gegen diese Entscheidung wird der Sheriff vom Vater eines toten Mädchens vor dem Haus von Adam erschossen und zeitgleich melden Eltern eine erneute Entführung. Gefunden wurde das Rad der vierzehnjährigen Paisley Walker. Von dieser Entführung erfährt die kürzlich pensionierte FBI-Agentin Jude Archer, die sich in ihrem Dienst jahrelang erfolgreich mit Kindesentführungen befasst hat. Sie reist nach North Falls, um Emmy zu unterstützen, denn sie ist ihre ältere Schwester. Die eigenwillige Jude hatte ein extrem schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern und Gerald Clifton hatte Emmy gesagt, dass Jude tot sei. Doch nun will sie als Beraterin Emmy helfen und muss sich gleichzeitig dem Argwohn der Bewohner der Stadt und ihrer eigenen Familie stellen. Umkreisen die Ermittler zuerst die Angehörigen, so entdecken sie erneut hinter den Fassaden der nach außen hin ehrbaren Familien Lügen und Geheimnisse. Durch Judes analytischen Blick und ihre jahrelangen Erfahrungen mit Kinderschändern, die oftmals ein bürgerliches Familienleben führen, nähern sich beide langsam den wahren Tätern. Und dann zwölf Jahre später offeriert die Autorin ein weiteres Geheimnis, dass allerdings Emmy und Jude betrifft.
Karin Slaughter zeichnet in ihrem sprachlich wie dramaturgisch spannenden Roman eine bigotte, wie rassistisch denkende Gesellschaft. Wie an feinen Fäden zieht sie die Lesenden immer tiefer hinein in eine dunkle Geschichte, verkompliziert durch toxische Beziehungen und bereichert durch ambivalente wie plastische Figuren. Trotz der grausigen Passagen, in denen die Gewalt an Kindern und Jugendlichen geschildert wird, will man unbedingt bis zum Ende lesen und dann einfach nur ausatmen.