Jussi Adler-Olsen, Line Holm, Stine Bolther, Tote Seelen singen nicht, Aus dem Dänischen von Friederiker Buchinger, Penguin Verlag, München 2025, 560 Seiten, €28,00, 978-3-328-60345-0
„Er war kurz davor gewesen, den Plan, sich an Konrad zu rächen, aufzugeben. Der schlaksige, schielende Konrad, der in jener Nacht vor vierunddreißig Jahren alles ausgelöst hatte. Kaare Berg war der größte Sadist gewesen, das stand außer Frage, aber Konrad hatte als Erster zugepackt, als sie Jakob in den See geworfen hatten. Er hatte auch die Idee mit dem Balkon gehabt. Und er hatte Vang bedroht, als der die Erwachsenen holen wollte.“
1989: Immer ein Außenseiter sein, diese schmerzliche Erfahrung muss der zehnjährige Jakob Solvig mit der wundervollen Stimme mehrmals in seinem Leben durchleiden. Sein pragmatischer, harter Vater ist Sprengmeister und verachtet seinen zarten Sohn. Seine Mutter ist zu schwach, um sich für ihn einzusetzen. Als er dann endlich von Zuhause weggehen kann und ein Vollstipendium für die Laurenti – Schule und den Knabenchor in Seeland bekommt, findet er zwar eine ihn liebende Gastfamilie, aber keine Freunde. Grausam und ohne jegliche Empathie quälen vier Jungen den hilflosen Jakob fast zu Tode und sie sorgen dafür, dass er unwissend einen Trank zu sich nimmt, der seine Speiseröhre verätzt. Weder der Chorleiter noch andere Erwachsene an der Schule glauben ihm oder stellen sich auf seine Seite. Und so muss er die Schule verlassen. Dieses traumatische Erlebnis überschattet Jakobs bisheriges Leben. Nur die Gewissheit, dass er den erwachsenen Mitschülern Konrad, Berg, Tommy und Vang immensen Schaden zufügen kann, gibt ihm Kraft. Innerlich ist Jakob gestorben und darum auch der Titel: „Tote Seelen singen nicht“.
Die Lesenden wissen von Anfang an, dass sich der Einzelgänger Jakob auf einem Rachefeldzug befindet. Allerdings hatte er nie die Absicht, seine Opfer zu töten. Eigentlich wollte er sie in den Ruin treiben, sie für ihre Verfehlungen und ihre Feigheit erpressen oder ihre berufliche Reputation lebenslang schädigen. Doch alles wird völlig anders kommen.
Multiperspektivisch erzählen Jussi Adler-Olsen, Line Holm und Stine Bolther aus der Sicht von Jakob, aber auch den Mitarbeitern des Sonderdezernats Q in Kopenhagen: der ewig schlecht gelaunten Rose Knudsen, dem kollegialen Hafez el-Assad und der geheimnisvollen wie äußerst attraktiven, neuen Ermittlerin aus Lyon, Helen Henry, und dem alten ausgeschiedenen Chef, Carl Mørck, der nun Bücher schreibt. Fans dieser Krimi-Reihe wissen um die privaten Befindlichkeiten der Ermittler und Ermittlerinnen, die in ihrem Keller alten Fällen nachgehen und irgendwie doch Angst um ihre Stellen haben, da sie kaum auf aktuelle Erfolge verweisen können, obwohl ihr Chef, Terje Plong, die Hand über sie hält. Doch dann bringt ausgerechnet Carl, der mit seiner Autorenschaft und dem zweiten Buch hadert, eine ihm zugespielte Sprachnachricht von einem Anrufbeantworter mit, die eindeutig belegt, dass im Jahre 2019 der entlassene Vorstandsvorsitzende Ole Horsten keinen Selbstmord begangen hat. Vorher hatte er angeblich auch noch versucht, seine demente Frau Jette zu töten. Mit der Auffindung des Ortes und des Wohnwagens am Furesee, wo Ole Horsten offensichtlich erwürgt und erhängt wurde, beginnen die ausufernden Ermittlungen des Sonderdezernats Q und auch deren Verzweiflung, da nichts so wirklich zusammenpasst. Erschwerend zu allem kommt noch hinzu, dass Rose, die sich körperlich extrem schlecht fühlt, die neue Kollegin, die zwar Dänisch beherrscht, aber ab und zu doch etwas falsch ausspricht oder versteht, nicht ausstehen kann und ihr unterstellt, sie sei eine Spionin des Chefs. Dabei wird im Laufe der Handlung schon deutlich, dass sie Geheimnisse hütet und ihre Versetzung nach Kopenhagen kein Zufall ist.
Natürlich legen die drei Autoren mit dieser Figur für folgende Bände neue Spuren aus und auch Roses Privatleben wird weiterhin von Interesse sein, denn sie ist mit ihren Anfang vierzig nicht in den Wechseljahren, sondern schwanger. Parallel zum alten Fall um Ole Horsten, der der damalige Chorleiter von Jakob war, geschieht auch am helllichten Tag der Mord an der Inhaberin einer Bäckerei. Die Niederländerin Marje Bakker in Østerbro wird geradezu hingerichtet. Später ereilt das gleiche Schicksal ihren Steuerberater. Helen ist vor Ort und offenbar sehr interessiert an diesem Fall, ebenfalls ein Cliffhanger für den 12. Band.
Bei einer bekannten Krimi-Reihe nicht in Routine zu verfallen und das Niveau zu halten, ist nicht ganz einfach und doch liefert das Autorenteam mit seinen überzeugenden, wie authentischen Figuren auch hier etwas ganz Besonderes ab, eine so raffiniert und äußerst dicht konstruierte Rache-Geschichte, dass es dem Leser dabei ohnehin schon kalt den Rücken hinunterläuft. Die Handlung ist spannend bis zum bitteren Ende, die Lesenden empfinden Empathie mit dem geschundenen Kind und möglicherweise auch den Rachegedanken des Erwachsenen, auch Dialogwitz blitzt manchmal auf, ohne das Grauen und die Brutalität zu verniedlichen.