Jessica Lind: Kleine Monster, Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag, Berlin 2024, 256 Seiten, €24,00, 978-3-446-28144-8
„Ich kenne ihn besser als jeden anderen Menschen. Aber die Stunden, die er ohne mich verbringt, all die Dinge, die er ohne mich erlebt, werden mehr, je älter er wird. So muss das auch sein. Er gehört mir nicht. Er gehört sich selbst. Und doch wünsche ich mir gerade, er hätte so eine Kamera eingebaut, wie einige dieser modernen Autos, wo man nach einem Verkehrsunfall zurückspulen und nachsehen kann, wer Schuld hat.“
Alles läuft in der Kleinfamilie von Ich – Erzählerin Pia bestens. Sie ist glücklich mit ihrem harmoniesüchtigen Mann Jakob, der gern Erziehungsratgeber liest, und beide haben einen wunderbaren, siebenjährigen Sohn namens Luca. Doch als die Lehrerin Pia und Jakob zu einem Gespräch bittet und die Eltern der zweiten Klasse Lucas Eltern ohne Vorankündigung aus der WhatsApp-Gruppe wirft, gerät die Familienkonstellation in die Schieflage. Etwas ist zwischen Jakob und einem Mädchen, als sich beide allein im Klassenraum aufhielten, geschehen. Doch was da nun vorgefallen ist, bleibt im Ungewissen. War es etwas Sexuelles? Was hat Luca gemacht? Denn er muss ja der „Täter“ sein, da Mädchen laut Lehrerin bei solchen Dingen nicht lügen? Warum eigentlich nicht?
Pia will sich unbedingt auf die Seite ihres Kindes stellen, wo der gutgläubige Jakob ohne Zweifel immer steht. Nach heftigen Auseinandersetzungen, sogar mit der besten Freundin, erinnert sich Pia immer öfter an ihre Kindheit zurück, an das Schweigen und auch Lügen der Kinder wie der Erwachsenen. Jessica Lind hat sich in Interviews zu ihrem Roman geäußert und gesagt:
„Generell ging es mir bei ‚Kleine Monster‘ darum, dass große Gefühle in Familien eben sehr nah beieinander liegen können. Liebe und Hass, Nähe und Distanz sind nur zwei Beispiele, und sich das anzuschauen in diesem Schmelztiegel Familie, wo das Ganze auch hochkochen kann, das interessiert mich sehr und deswegen mache ich das auch gerne zum Schauplatz meiner Geschichten.“
Alle Rückblicke von Pia sind stellenweise unheimlich, liebevoll, aber auch tröstlich, zumal die Familie mit einem tragischen Unglück klarkommen muss. Linda, die jüngste Schwester von Pia, ist als Vierjährige im nahen Waldsee ertrunken. Zu diesem Zeitpunkt lag Pia krank im Bett, aber ihre Adoptivschwester Romi war kaum älter als Linda vor Ort anwesend. Die Mädchen kommen kaum mit dem ambivalenten Verhalten und dem Schweigen der Mutter und dem Rückzug des Vaters zurecht. Immer wieder versucht Romi auch durch Provokationen, die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zu lenken. Der Schmerz um Linda überschattet alles, bis es zum sehr frühen Auszug von Romi und somit zum endgültigen Bruch mit der Familie kommt. Was ist wirklich am See geschehen? Warum schleicht sich dieses Misstrauen gegen das eigene Kind so klammheimlich ein, dass es Pia nicht mehr loswerden kann? Ist es gut, wenn Jakob immer wieder betont, was für ein „besonderes Kind“ doch sein Sohn sei?
Dieser sprachlich so fein formulierte Roman, in dem kein Satz zu viel ist, löst viel mehr Fragen als Antworten aus, bringt sicher auch Eltern mit Kindern dazu, an ähnliche Momente, wie im Roman beschrieben, aus dem eigenen Erleben zu denken.
Pia überschreitet in ihrem Verhalten Luca gegenüber so einige Grenzen und Jakob erkennt seine Frau nicht wieder, was zu heftigen Auseinandersetzungen führt. Auch sie selbst spürt, wie sie unsicherer wird und ihr Urvertrauen verliert und auch mit ihren eigenen Eltern ins Gericht geht.
Niemand kann Eltern vorher sagen, was auf sie zukommt. Nie wird das Kind so sein, wie man es sich wünscht. Allerdings hilft das Schweigen kaum etwas, auch wenn es in viel zu viel Familien an der Tagesordnung ist.
Sehr lesenswert und eine absolute Empfehlung!