Nele Neuhaus: Im Wald, Ullstein Verlag, Berlin 2016, 560 Seiten, €22, 00, 978-3-5500-8055-5

„Hier ein Bröckchen, da ein Krümelchen – wie Bodenstein geahnt hatte, war die Wahrheit all die Jahre in den Köpfen der Leute gewesen. Jeder wusste etwas, aber niemand hatte je die einzelnen Mosaiksteinchen zusammengesetzt, schlicht und einfach deshalb, weil keiner ein Interesse daran gehabt hatte, an dieser Geschichte zu rühren. Artur war ein Fremder gewesen, Leo Keller der Sündenbock.“

Eine Reihe von Mordfällen bringt Kriminalkommissar Oliver von Bodenstein in den Ort seiner Kindheit zurück. Rosie Herold, eine alte Frau im Hospiz, ihr Sohn Clemens in einem verlassenen Campingwagen und ein Pfarrer, dem Rosie wohl etwas erzählt hatte, wurden Opfer eines brutalen Täters, der offenbar im Ort Ruppertshain wohnt. Eventuelle Zeugen, die den Mann gesehen haben, werden fast totgeschlagen und ebenfalls ermordet. Nach und nach kehren die Erinnerungen zurück und der Schmerz.

Im Sommer 1972 verschwand Artur Berjakov, der Sohn einer Aussiedlerfamilie aus Kasachstan aus dem Ort. Angeblich sei er zu seinen Großeltern in die Heimat zurückgekehrt. Dabei sah die Familie Berjakov Deutschland als ihr Zuhause an, aber im Ort wurden sie nur als die „Iwans“ bezeichnet und gemobbt. Die Jungen im Ort, die mit einigen Mädchen eine Bande bildeten, hassten den freundlichen Jungen, der nur mit von Bodenstein und Wieland befreundet war. An dem bewussten Abend, die Jungen waren gerade mal elf Jahre alt, hat von Bodenstein seinen Freund Artur nicht begleitet, denn er wollte eine „Bonanza“- Folge im neuen Farbfernseher sehen. Artur ist nicht mehr aus dem Wald zurückgekehrt. Seltsamerweise gab sich von Bodenstein, selbst noch ein Kind, die Schuld am Verschwinden des Jungen. Auch wenn von Bodenstein die Menschen im Dorf jahrzehntelang nicht mehr gesehen hatte, gibt er die Leitung der Ermittlungen an Pia Sander vom K11 ab. Allerdings forscht er weiter nach und gelangt hinter ein trauriges Geheimnis.

Nur aufs Ansehen und die Karriere bedacht, haben alle damaligen Bandenmitglieder, die noch im Ort leben, jahrelang geschwiegen. Wahrhaft glücklich ist niemand geworden und so schaut Nele Neuhaus in diese kleine Ortsgemeinschaft, wie in einen Mikrokosmos und erzählt von den einzelnen Schicksalen und dem Leben in engster Gemeinschaft.

Unerklärlich bleibt nach wie vor der Hass auf die „Fremden“, die Familie Berjakov, die ja eigentlich gar keine Fremden waren. Sie beherrschten die Sprache, waren arbeitsam und gewillt, sich ohne Einschränkungen in die Gemeinschaft zu integrieren. Wie unsensibel und manipulativ die polizeilichen Ermittlungen vor 42 Jahren geführt wurden, verschlägt von Bodenstein dann doch die Sprache. Als dann Arturs Leiche und die des zahmen Fuchses Maxi, den von Bodenstein über alles geliebt hatte, gefunden werden, wird langsam klar, dass viele im Ort wussten, warum der kleine Junge sterben musste. Schwere Verletzungen weist das Skelett es Jungen auf, er musst gestürzt sein und dann von einem Auto überfahren worden sein.

Als Rosie kurz vor ihrem Tod dem Pfarrer beichtete, dass sie ein Menschenleben auf dem Gewissen hat, beginnt der Täter alle Mitwisser auszuschalten. Mit welcher Boshaftigkeit und Niedertracht die Menschen in diesem Ort miteinander umgehen, wie Abhängigkeiten ausgenutzt und Wohlwollen erkauft wird, liest sich nur schwer. Schön gepflegt sind die Häuser und Gärten und doch fault es hinter fast jeder Fassade.

Eigentlich müsste der Titel des Romans lauten: Das Dorf oder vielmehr die Bewohner des Dorfes Ruppertshain im Taunus, die seit gut 42 Jahren den Tod eines Kindes vertuscht haben. Nele Neuhaus besticht in dieser ausufernd erzählten Kriminalgeschichte mit vielen Redundanzen mit einer großen Anzahl an Figuren und durch ihre bodenständigen, psychologisch genauen Beobachtungen und Beschreibungen von seelischen Grausamkeiten, Lügengespinsten und einem tief sitzenden Rassismus. Es sind die Konstellationen in fast übersichtlichen Gemeinschaften, die offensichtlich dem Bösen nichts entgegensetzen können, wenn diejenigen, die die Macht haben und diese auch ausnutzen. Das jahrelange Schweigen, die Verstellungen und Fehlinformationen haben die Leben der Beteiligten zerstört. Oliver von Bodenstein schaut in menschliche Abgründe und fühlt sich in seinem Beruf nicht mehr wohl, seinem Enthusiasmus folgt nur noch Ernüchterung. Er hat ein Sabbatical beantragt, auch um sich mehr um seine Tochter Sophia kümmern zu können. Seine berufliche Partnerin Pia Sander hadert mit dieser Entscheidung, denn sie fühlt sich eigentlich im Job nur mit von Bodenstein an ihrer Seite wohl.

Man darf gespannt sein, welches Ermittlerteam im nächsten Krimi von Nele Neuhaus auftreten wird.