Ian Rankin: Das Erbe der Toten, Aus dem Englischen von Conny Lösch, Goldmann Verlag, München 2023, 492 Seiten, €22,00, 978-3-442-31695-3
„Konnten alte Männer noch Einfluss nehmen auf die Welt, eine Rolle spielen, sich hervortun? Mochte sein, dass die Welt sie nicht mehr wollte, aber das bestärkte sie manchmal umso mehr darin, sich nicht ausschließen zu lassen. Sie verschafften sich Gehör. Sorgten dafür, dass sie gesehen wurden. Rebus war sich durchaus bewusst, dass sich heutzutage niemand mehr auf der Straße nach ihm umdrehte, wenn er am Kiosk eine Zeitung bezahlte…. Er saß in seinem Saab und fühlte sich anonym. Unsichtbar.“
Offenbar scheint es nicht nur Frauen ab einem bestimmten Alter zu interessieren, ob sie gesehen werden oder nicht. Auch John Rebus, einst Detective Inspector nun im Ruhestand und ab und zu Berater bei der Polizei in Edinburgh, sucht nach Aufgaben, die ihn ausfüllen könnten und wieder etwas sichtbarer machen. Allerdings hätte er nicht gedacht, dass er dadurch vor Gericht landen wird.
Wie es dazu kam, dass erzählt Ian Rankin wie immer spannend, temporeich und vor allem mit einem kritischen Blick auf die schottische Gesellschaft und zweifelhafter Polizeiarbeit.
Rebus soll für die Gangstergröße, Moris Gerald Cafferty, nach einem gewissen Sam Oram suchen, der aus Angst vor Caffertys Rache vor vier Jahren abgetaucht ist. Oram hatte Geld in der Kneipe von Cafferty veruntreut und nun will sich dieser angeblich entschuldigen. Rebus ahnt, dass es kaum um eine Abbitte geht, sollte er Oram finden. Zeitgleich befassen sich DI Siobhan Clarke und Christine Esson mit einem gewalttätigen Polizisten, der seit fünfzehn Jahren im Dienst ist und seine Ehefrau misshandelt haben soll. Francis Haggard arbeitet auf der Gefängniswache Tynecastle, die nicht gerade für ihre korrekte Arbeit bekannt ist, sondern eher durch ihren harten Ton, viele Schikanen und Betrügereien, die jedoch nie bewiesen werden konnten. Niemand ist an schlechter Presse über Polizisten interessiert und so bekommt Siobhan für ihren Fall eine Menge Druck von oben. Doch sie kann nicht akzeptieren, dass der aggressive Haggard aufgrund angeblicher traumatischer Störungen straffrei davonkommt. Immer wollten die Kollegen, wenn zum Haus von Haggard gerufen wurden, seine Ausreden glauben. Eine Krähe hackt nun mal der anderen Krähe auch bei Police Scotland nicht die Augen aus. Doch nun ist das Maß voll. Allerdings hat Haggard noch einen Trumpf im Ärmel. Er droht damit, auch öffentlich, über die Machenschaften in der Polizeiwache, wie Erpressung falscher Geständnisse, Drogenmissbrauch und weiterer Delikte zu sprechen. Bei den Vernehmungen der anderen Polizisten kann Siobhan wenig erreichen.
Haggard wird aus der Untersuchungshaft entlassen, bedroht trotz Kontaktverbot seine Frau und wird in der Wohnung, die er durch seine guten Beziehungen zum Makler Fraser Mackenzie erhalten hat, ermordet. Eine neue Ermittlerin, DCI Katherine Trask, kommt hinzu, arbeitet aber mit DC Clarke zusammen. In der Wohnung von Haggard finden die Ermittlerinnen sogar Drogen. Schnell wird klar, dass auch der Fall von Sam Oram irgendwie mit Cafferty und Mackenzie zu tun haben muss. Mackenzie hatte Orams Sohn Tommy eingestellt, der, und das findet Rebus heraus, seinem Vater heimlich Unterschlupf gewährt hatte. Rebus versucht nun über Siobhan Clarke an Informationen zu gelangen, aber auch einstige Kollegen können sich nicht alles sagen. Auf jeden Fall müssen sich die Ermittler durch die Akten zu allen Fällen in Tynecastle hindurcharbeiten. Wurde Haggard ermordet, weil er sich sozusagen durch seine Aussagen über die eigenen Kumpel freikaufen wollte? Haggards Frau, Cheryl, konnte inzwischen bei ihrer Schwester Stephanie Pelham untertauchen. Sie lebt in Scheidung vom Bauunternehmer James Pelham, der allerdings die Steuerfander am Hals hat. Natürlich gab es Verbindungen, privat und geschäftlich, zwischen den Schwagern. Als dann eine Brandbombe bei der Journalistin und Bloggerin Laura Smith, die auch DC Clarke gut kennt, in der Wohnung hochgeht, wird klar, dass sie mit ihren Recherchen den nach außen hin rechtschaffenen, aber auch kriminellen Personen, die Immobilien verwalten, als Polizisten oder in Clubs arbeiten, zu nah gekommen ist.
Rebus verstrickt sich immer mehr in dem Fall und Bauernopfer müssen nun mal ihren Kopf hinhalten. Am besten die alten Männer, für die sich ja eigentlich niemand interessiert.