Helene Flood: Die Affäre, Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein, btb Verlag, München 2023, 512 Seiten, €16,00, 978-3-442-75898-2
„Ich weiß noch, wie ich an jenem Abend hier unten stand, bevor ich zum ersten Mal zu Jørgen hochging, und dachte: Åsmund könnte es herausfinden, und alles wäre zerstört. Doch dann dachte ich: Aber wenn ich es nicht tue, werde ich es dann bereuen? Werde ich immer an diesen Augenblick denken und mir wünschen, ich hätte es getan? Nächstes Jahr werde ich vierzig.“
Rikke Prytz erzählt zu Beginn einer unbekannten Person von ihrem Umzug mit der Familie in eine ruhige Straße unweit des norwegischen Ortes Tåsen. Hochschwanger zieht sie mit ihrem Mann Åsmund und Tochter Emma in ein Vier-Parteien-Haus mit Gemeinschaftsgarten. Die Wände scheinen ziemlich dünn zu sein, aber alle nehmen Rücksicht und die Hausgemeinschaft feiert sogar zusammen einmal im Jahr ein Fest. Nach vier Jahren hat sich alles eingespielt. Sohn Lukas ist aus dem Gröbsten raus und die Familie könnte ein gutes Leben führen. Durch den Kauf der Wohnung ist die Familie zwar verschuldet, aber wer ist das nicht? Rikke arbeitet in ihrem Forschungsinstitut, Åsmund ist in seinem IT-Bereich beschäftigt und die dreizehnjährige, pubertierende Emma hat Freundinnen gefunden. Wären da nicht diese grausigen Fälle, in denen offenbar jemand die Katzen aus der Umgebung tötet, ausweidet und öffentlich ausstellt. In ihrer Ansprache an ein „Du“ beginnt Rikke nach und nach, jedoch auch von ihrem Verhältnis zu ihrem attraktiven Nachbarn Jørgen zu erzählen. Er wohnt mit seiner Frau Merete, einer ehemaligen Konzertpianistin, die offenbar für die Familie vieles aufgegeben hat, und Tochter Filippa in der geschmackvoll eingerichteten Wohnung über ihnen. Als Journalist und Dokumentarfilmer ist Jørgen ein unterhaltsamer Gastgeber, zumal er sich gegenwärtig mit der Lage in Afghanistan befasst. Rikke und Familie und Jørgen und Merete haben sich einmal zum Abendessen getroffen, doch so richtig gut gelaufen ist das Treffen nicht. Erst die zufälligen Begegnungen von Rikke und Jørgen lassen beide wohl träumen. Allerdings ist Jørgen, was Rikke erst später erfährt ein notorischer Fremdgeher.
Die Sehnsucht Rikkes nach einem Abenteuer scheint groß zu sein, zumal sie nie mit einem anderen Mann als Åsmund geschlafen hat. Vorsichtig und behutsam beginnt die Affäre, die Rikke immer wieder versucht zu beenden. Zu groß ist die Angst, dass sie durch diesen Seitensprung ihre Familie zerstört. Als dann Merete mit ihrer Tochter wieder in die Berge gefahren ist und Åsmund ebenfalls unterwegs ist, schleicht sich Rikke, da Jørgen nicht auf ihre SMS reagiert in seine Wohnung. Sie weiß, wo der Schlüssel im Blumentopf vor der Haustür zu finden ist. Doch sie geht nicht in die Zimmer, sucht nicht nach Jørgen, denn sie spürt, dass etwas nicht stimmt, sie vernimmt einen Geruch, den sie kennt und flüchtet aus der Wohnung. Da läuft ihr der Nachbar Saman über den Weg. Hat er sie aus der Wohnung kommen sehen? Am folgenden Tag kommt Rikke mit ihrer Familie von der nicht gerade geliebten Schwiegermutter zurück, als die Polizei bereits vor dem Haus steht. Jørgen wurde am Schreibtisch die Kehle durchgeschnitten und es gibt keine Einbruchspuren. Die ermittelnde Polizistin ist ausgerechnet eine Bekannte von Rikke, die sie noch aus der Studentenzeit kennt. Ingvild Fredly ist die Adressatin für Rikkes Geständnis ihrer Affäre. Diese ahnt, dass sie nun ihrem Mann alles gestehen muss. Doch sie kann sich einfach nicht durchringen. Wie diskret die Ermittler nun mit den Aussagen der Leute im Haus umgehen werden, ist auch nicht gewiss. Denn letztendlich glaubt die Polizei, dass nur jemand aus dem Haus der Mörder sein kann. Rikke beginnt selbst zu recherchieren, denn sie glaubt, dass Jørgens journalistische, auch kritische Arbeit vielleicht der Schlüssel zu diesem Mord sein könnte. Durch ihre Schlafstörungen kann sie kaum noch klar denken und sie ahnt, dass sie auch nicht mehr in diesem Haus leben kann.
Als ausgebildete Psychologin stellt Helene Flood nicht die Polizeiarbeit in den Vordergrund, sondern die offenen und verdeckten Konflikte zwischen ihren literarischen Figuren. Sie zeichnet ein Bild von Rikkes familiärer Situation, berichtet aber auch von der offenbar nicht mehr so liebevollen Beziehung zwischen Rikke und Jørgen. In assoziativen Rückblenden rekapituliert die Autorin Ereignisse aus Rikkes Leben, nicht in chronologisch geordneter Reihenfolge, sondern willkürlich sprunghaft. Auf der Seite Rikkes können die Lesenden gut oder auch weniger gut nachvollziehen, wie es in ihrem Inneren aussieht. Das vorweggenommene Drama zeichnet sich durch die toten Katzen ab und wirkt doch auch etwas überzeichnet. Leider spannt die norwegische Autorin in ihrem zweiten Roman den dramaturgischen Bogen zu weit und ausschweifend und lässt die Lesenden doch zu lang im Ungewissen darüber, was wirklich geschehen ist. Hundert Seiten weniger hätten die Handlung gestrafft und die Aufmerksam doch mehr fokussiert, zumal das Ende offen bleibt, wenn es um Rikkes und Åsmunds Ehe geht.