Harlan Coben: In tiefster Nacht, Aus dem Amerikanischen von Gunnar Kwisinski, Goldmann Verlag, München 2025, 448 Seiten, €17,00, 978-3-442-20687-2

„Ihre Worte treffen mich wie Tiefschläge. Sie sind nett gemeint, aber das habe ich nicht verdient. Sie war da, vor meiner Nase, hat gelitten, steckte in Schwierigkeiten, und ich habe nichts gemerkt und ihr nicht geholfen.“

Der ehemalige Polizist Sami Kierce, er ist der Ich-Erzähler, der die Lesenden auch gern anspricht, um sie von seinem Verhalten zu überzeugen, ist eine ambivalente Figur. Entlassen aus dem New Yorker Dienst, schlägt der Anfang Vierzigjährige pakistanischer Herkunft aus New Jersey sich mit krummen Gelegenheitsbetrügereien und Erpressungen herum und er ist der Anwaltskanzlei, die ihn vertreten wird, etwas schuldig. Wenn Sami auf sein Leben zurückschaut, dann ist vieles schief gelaufen. Nach dem College wollte er sich für Medizin einschreiben, doch dann ereignete sich auf seiner Europarundreise in Spanien 2003 etwas Furchtbares. An der Costa del Sol lernte Sami die berauschend attraktive Anna kennen und konnte nicht fassen, dass sie sich für ihn interessierte. Für ihn war es mehr als ein Urlaubsflirt, gepaart mit Drogen, viel Alkohol und durchtanzten Nächten. Doch nach fünf Tagen wachte Sami neben Anna auf, die offensichtlich mit einem Messer getötet wurde. Als er das Messer in der Hand hielt und Drogendealer Buzz plötzlich im Raum stand, ahnte Sami, dass er wirklich Probleme bekommen könnte. Die schnelle Flucht aus dem Land war für ihn als dunkelhäutigen, jungen Mann die einzige Option. Jahre später wird dann Samis Verlobte, die Polizistin Nicole ebenfalls ermordet. Ihr Täter, Tad Grayson, der immer behauptet hat, dass er die achtundzwanzigjährige Frau nicht getötet habe, wird nun vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, bedingt auch durch Samis unkonventionelle Verhaltensweisen in seinem damaligen Polizeidienst.
Ein Lichtblick in Samis Leben ist seine taffe Frau Molly und sein kleiner Sohn. Und Sami hält in der Abendschule Vorträge über Kriminalfälle, die gut besucht sind. An einem dieser Abende sieht Sami nun die Frau, die er nach all den Jahren für Anna hält und folgt ihr nach Connecticut. Es stellt sich heraus, dass Anna offensichtlich die Tochter des schwerreichen Archie Belmond ist, die vor elf Jahren während der Silvesterfeier 1999 verschwunden ist. Nie gab es eine Lösegeldforderung und vor allem auch keinen Grund, aus dem Victoria hätte einfach so verschwinden sollen. Gefunden wurde die nun Zweiundvierzigjährige mit kahl rasiertem Kopf in einer Kneipe in Maine. Sie ist nicht in der Lage, sich an irgendetwas zu erinnern. Der DNA-Test ist eindeutig, sie ist die leibliche Tochter von Archie. Sami ist sich absolut sicher, dass Viktoria Anna ist und er scheint der Erste zu sein, der der traumatisierten Frau von ihrer eigenen dunklen Zeit, die jedoch auch von Drogen überschattet war, erzählen kann.
Harlan Coben, Altmeister des Thrillers, konstruiert nun von diesem spektakulären
Wiedersehen der beiden Protagonisten im Jahr 2025 aus eine spannende Handlung. Mit der Aussicht extrem viel Geld zu verdienen, soll Sami herausfinden, wie Annas Entführung verlaufen ist, wer die Hintermänner waren und vor allem, wie die junge Frau nach Spanien gekommen ist. Mag die Aussicht auf das enorme Honorar ein Antrieb sein, so sucht Sami doch auch nach seinem eigenen Seelenfrieden und der Gewissheit, dass er Anna damals nichts angetan hat. Die Akten zum Fall Victoria Belmond hält das FBI unter Verschluss. Zeitgleich entdeckt Molly, dass sie von einem Unbekannten gestalkt wird. Sie ahnt, dass hinter dieser Angst einflößenden Aktion Tad Grayson stecken muss.
Durch eine Vertraulichkeitsvereinbarung an Archie Belmond gebunden, beginnt Sami nun mit seinen Befragungen und Entdeckungen. Eine wahre Hilfe sind die Teilnehmer seines Abendkurses und sein alter Kumpel Marty von der NYPD. Durch die Reise nach Málaga und seine Recherchen, die ihn in die tiefen Abgründe des Menschenhandels führen, entsteht langsam ein Bild von dem Geschehen in dieser so schicksalshaften Silvesternacht und allem, was danach passiert ist.
Als sich dann jedoch Victoria, die Familie versucht sie rund um die Uhr zu beschützen, und Sami heimlich treffen und sie ihm gesteht, dass sie ihn doch wiedererkannt hat, fallen zwei Schüsse.

Der routinierte Autor Harlan Coben kombiniert in seiner bis zum Ende aufregenden Handlung, ohne die Lesenden mit brutalen Szenen zu belasten, verschiedenste Verbrechen: Entführung, Erpressung, Betrug, Diebstahl, Totschlag, Menschenhandel und Mord. Doch vordergründig geht es um zerstörte Existenzen, um Menschen, die auf die eine oder andere Weise erleben mussten, dass das Schicksal es nicht gut mit ihnen gemeint hat, unabhängig davon ob sie nun wohlhabend oder mittellos sind.

Obwohl Harlan Coben offenbar ein Vielschreiber ist, enttäuschen seine Romane nie!

Weitere Besprechungen von Harlan Cobens Thriller sind in diesem Literaturblog zu finden!