Gesuino Némus: Die Frömmigkeit der Schafe, Ein Sardinien- Krimi, Aus dem Italienischen von Sylvia Spatz, Eisele Verlag, München 2023, 287 Seiten, €17,00, 9783961611546
„So war das in seiner Heimat, und so würde es immer sein. Wer hier nicht lebt, würde nach einer Woche am liebsten für den Rest des Lebens auf der Insel bleiben. Wer aber hier geboren ist, würde, wenn er könnte, am liebsten schon mit dem Schnuller in der Hand abhauen.“
Sie sind, keine Frage, besonders eigenwillig diese Bewohner von Telévras auf Sardinien und Gerüchte verbreiten sich ziemlich schnell in Samueles Bar. Warum der Dorfschullehrer Marcellino Nonies, der Jahrzehnte lang den Kindern in der Grundschule alles beigebracht hat, fast isoliert von der Gemeinschaft für sich gelebt hat, wird lange ein Rätsel bleiben. Es ist ein heißer Sommer 2017, denn bereits am Morgen herrschen im Schatten 32°C. Bevor Nonies sich vor sein Haus in aller Ruhe setzen wird und sterben, hat er noch seine Gedanken zur „Frömmigkeit der Schafe“, bedeutende 120 Seiten, niedergeschrieben. Da er am Ende unter Parkinson litt, sind die Zeilen schwer zu entziffern. War es nun ein natürlicher Tod, Selbstmord oder gar Mord?
Eine Autopsie wird angeordnet und Brigadiere Ettore Tigàssu quält sich durch das Manuskript des vierundachzigjährigen Mannes, in dem er mit sarkastischem Blick auf die Gemeinschaft der Schafe und Wölfe und somit der Menschheit schaut.
„Schafe in Menschengestalt erkennt man auf den ersten Blick. Sie blöken, grasen, käuen wieder und laufen kopflos herum. Ihr einziger Lebenszweck besteht darin, im April gut genährt und mit wohlschmeckendem zartem Fleisch zur Schlachtbank geführt zu werden.“
Der Autor Gesuino Némus alias Matteo Locci schaut aber nicht nur auf das Sardinien der Gegenwart, sondern erzählt auch von einem besonderen Mädchen, dass sich durch seine Weigerung, die Schule überhaupt zu betreten, für den Lehrer besonders interessant war. Mariàca Tidóngias lebte allein mit ihrem Vater, doch sie war ein Naturtalent und konnte die Tests alle bestehen. Mit fünfzehn Jahren wurde das hochbegabte Mädchen schwanger und verließ die Insel für immer. Nun scheint sie zurückgekehrt zu sein und nicht nur die Polizei, bei der sie sich eigentlich melden soll, ist etwas in Aufruhr. Als Kontaktadresse hat Mariàca die des Lehrers angegeben und doch scheinen die beiden, sich nie gesehen zu haben. Doch das ist eine Lüge.
Viele Geheimnisse umgeben die einst junge Frau, die offenbar nicht in Frankreich, sondern auch in Italien im Gefängnis gesessen hat. Doch wofür? Seltsame Trauergäste finden sich auf der Beerdigung des Grundschullehrers ein.
Und dann geschieht ein unerklärlicher Mord. Der völlig unbescholtene Landpolizist Casereddu, der für alle möglichen Wehwehchen im Ort zuständig ist, wird erschossen. Vorher hatte er noch einer kleinen, zarten Frau gestattet, in die Kapelle zu gehen. Dass sie dort eine Tasche mit Waffen abgestellt hat, kann er nicht ahnen. Unerklärlich ist für Tigàssu auch, dass die Staatsanwaltschaft ganz plötzlich über alles Schweigen verhängt und jegliche Ermittlungen unterbindet.
Was hat die Vergangenheit von Mariàca mit dem Lehrer, dem Tod des Landpolizisten und vielleicht dem neuerlichen Drogenhandel zwischen Korsika und Sardinien zu tun?
Sprachlich anspruchsvoll nimmt Gesuino Némus nie seine Lesenden an die Hand, sondern fordert von ihnen durchaus eigenes Denken beim Lesen. Sie sollen nicht wie die Schafe alles vorgekaut bekommen, sondern sie müssen sich durch die Aufzeichnungen des Lehrers hindurcharbeiten und die Doppelbödigkeit der Handlung ergründen und dürfen aber auch nebenbei über die Einwohner der Insel schmunzeln und ihnen bei ihren Problemen in der brütenden Hitze zusehen.