Sybille Hein: Eure Leben, lebt sie alle, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2022, 336 Seiten, €20,00, 978-3-423-28282-6

„Freddy als Patentante, diese lottrige Ost-Musikschule und auch die verdammte Fahrt zu Johanna in die Klinik – im Grund sind das alles Altlasten, die Jonas Kiekhöfel hinterlassen hat. Sie kleben an mir wie alter Kaugummi. Sorgen dafür, dass wir alle nach so vielen Jahren immer noch aneinander festpappen. Ellen, Freddy, Johanna und ich. Trauernde Witwen.“

Im Jahr 1992 hat Jonas Kiekhöfel, der begnadete Musiker und Texter, auch Soziologiestudent, sein Leben durch einen Motorradunfall beendet. Zurück bleiben seine jetzt achtzigjährige Mutter und seine damaligen Freundinnen, die über zwanzig Jahre hin Kontakt gehalten haben. Johanna jedoch liegt in der Klinik im Koma, da sie, offenbar kein Selbstmord, vom Balkon gefallen ist. Jeder weiß, dass die von ihrem Vater finanziell bestens ausgestattete Johanna Drogen konsumiert.
Sibylle Hein, vielen bekannt durch ihre Kinderbücher, schaut mit leicht ironischem Ton in die gegenwärtigen Leben ihrer Berliner Frauenfiguren Marianne, Luise, Ellen und Frederike. Alle erinnern sich an ihre Zeit mit Jonas und registrieren neben Alltagsnöten und Geständnissen, dass irgendetwas nicht stimmt, Krisen aufbrechen, die nicht harmlos sein werden.
Marianne, einst als Synchronsprecherin und Radioredakteurin tätig, zweifelt an ihren Wahrnehmungen, dem plötzlichen Riss zwischen sich und der normalen Alltagswelt. Die einst so attraktive Luise hat für ihre heile Familie ihren Beruf als Architektin aufgegeben und tyrannisiert nun alle mit ihren überzogenen Vorstellungen und Erwartungen. Ihr Mann Klaus, ein Steueranwalt, hält sich aus allem raus. Doch die Kinder Philipp und Sophie beginnen langsam zu revoltieren, und alle Ideen der Mutter zu torpedieren.
Die gutmütige Frederike, die als Lektorin in einem Verlag arbeitet, leidet an ihren Körperfülle und der Sorge um ihren Vater, dessen Aufenthaltskosten in einem Altenheim an ihr und nicht an ihrem nutzlosen Bruder hängen. Hoch verschuldet wird langsam klar, dass Frederikes Vater sein Einzelzimmer aufgeben muss und nun ein Doppelzimmer mit einem ruhigen Mann teilt, der allerdings zu gern Kindergeburtstage organisiert. Verzweifelt sucht Freddy nach Auswegen, zum einen benötigt sie einen Kredit und zum anderen einfach Trost, damit sie nicht bei einer Kleideranprobe mit einer gertenschlanken Verkäuferin leise in sich hinein weint.
Ellen steuert als Sängerin ein Comeback an, denn sie war einst mit Jonas in einer Band. Zwar hat sie ein stabiles Arbeitsleben als Psychologin und ist Mutter und Ehefrau und doch scheint da eine Sehnsucht nach mehr zu sein. Außerdem hat sie ein Verhältnis mit einem bedeutend jüngeren Mann.
Da der Austragungsort aller Konflikte in Berlin stattfinden, spielen natürlich auch die üblichen Ost – West – Konflikte eine Rolle. Und doch werden die Trauernden in Gesprächen und mit viel Humor zueinanderfinden.

Fein geschriebener Roman über alles, was uns heute bewegen kann.