Emily Itami: Eine kurze Begegnung, Aus dem Englischen von Melike Karamustafa, Blessing Verlag, München 2023, 288 Seiten, €24,00, 978-3-89667-749-5
„Der Tag bestand aus Sand essen und lautem Weinen, weil Eri in scharfkantige Muscheln trat, und Tatsu, grau vor Müdigkeit, saß da und zuckte wie der Leichnam eines Diktators, den wir irgendwie in Freizeitkleidung gestopft hatten. Ich erinnere mich, am Ende des Tages einen gurrenden, kichernden Aki in seinen Kinderwagen gesteckt und voller Selbsthass mit den Tränen gekämpft zu haben.“
Alles in Mizukis sicherem Leben ist perfekt. Sie hat einen attraktiven Ehemann, der auch noch gut verdient, sie lebt mit ausreichend Platz in einer der besten Wohngegenden in Tokio und sie hat zwei gesunde Kinder, Aki ist vier und Eri ist zehn Jahre alt. Aus ihrer Sicht erzählt die japanische Hausfrau von ihrem Alltagsleben. Für sie jedoch ist nichts vollkommen, denn ihr Ehemann Tatsuya schaut nach sechzehn Jahren Beziehung nur noch auf sein Handy, hat jegliches Interesse an ihr verloren und übersieht auch seine Kinder.
„Seine ganze Energie wurde im Büro absorbiert, und was nach Hause kam, war eine Hülle, ein Fremder mit gerunzelter Stirn, der unser Zuhause wie eine Art Dienstwohnung nutzte und nur widerwillig das Wort ergriff, wenn etwas nicht wie gewohnt lief oder wir ihm im Weg waren.“
Noch ist Mizuki in der Phase, wo sie das Gespräch, den heftigen Streit mit Tatsu sucht und vor Wut eigentlich am liebsten von einem ihrer Balkone springen würde. Doch langsam gewöhnt sie sich an die Gleichgültigkeit ihres Mannes, der nie auch nur eine häusliche Tätigkeit übernimmt und auch die gesamte Kinderbetreuung seiner Frau überlässt. Sie resümiert über ihr Leben, dass vor der Ehe und den Kindern so hoffnungsfroh aussah. Immerhin ist sie als Jugendliche voller Mut nach New York gegangen, hat sich durchgeschlagen und sogar eine Karriere als Sängerin begonnen. Zwar wollte sie immer Kinder haben, eine Ehe führen, aber nicht diese lust- wie empathielose Beziehung. Mizuki trifft ihre Freundinnen, spricht mit den Müttern vor der Schule über die Kinder und geht ihrem Nebenjob nach, indem sie als interkulturelle Beraterin Expats aus dem Westen die japanische Sprache und vor allem die japanischen Verhaltensweisen nahe bringt. Wer kann schon wissen, welche Hierarchien entstehen, wenn mehrere Leute in einen Fahrstuhl steigen?
Emily Itami lässt ihre Ich-Erzählerin in einem eher ironischen Ton berichten, der ab und zu bei aller Wut auch mal leicht ins Vulgäre abrutscht. Mizuki hadert mit ihrem Alter, neigt zu akribischen Selbstbeobachtungen, beschreibt aber auch sehr gern ihre Stadt Tokio, die Menschen und vor allem die Freundinnen, die ihr Leben genießen können, insbesondere die Frauen um Eloise, die auch noch Französisch spricht und sie immer zu den Tokyo Fashion Weeks einlädt.
Doch dann begegnet Mizuki, die auch den Spaß am Flirten längst vergessen hat, einem fremden Mann, der sich für sie interessiert. Er wird ihre kurze Begegnung sein, die alles ändern könnte.
Kiyoshi besitzt einige Restaurants, ist Koch und kennt durch seine intensive Arbeit seinen Wohnort kaum. Mizuki zeigt ihm nun die Orte in Tokio, die sie sehr mag. Mit ihm kann sie ungefiltert Gespräche führen, als würde sie sich in einem völlig anderen Leben bewegen. Von den stressigen Momenten insbesondere mit einem vierjährigen eigensinnigen Kind befreit, wird er zu ihrer gedanklichen, wie sinnlichen Oase. Mizuki lebt mit Kiyoshi auf, verspürt, auch wenn sie das als japanische Frau sollte, keine Gewissensbisse und unterstützt ihn sogar in seinem beruflichen Fortkommen. Fragt sich, wie diese Begegnung sich auf ihr Leben auswirken wird.
In dieser Zerrissenheit einer Frau um die vierzig mit fordernden Kindern, klaren gesellschaftlichen Regeln und einem vielleicht auch desillusionierten Mann finden sich vielleicht Leserinnen wieder, die auch ihre beruflichen Ambitionen verloren haben. Wie schwer es jedoch in Japan ist, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen, erzählt dieser Roman nicht nur zwischen den Zeilen. Die Autorin gewährt einen dezenten Einblick in gesellschaftliche Spielregeln in Japan und in die doch auch sehr andere Kultur.