Stewart O’Nan: Emily, allein, Aus dem Englischen von Thomas Gunkel, TB, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2012, 384 Seiten €9,99, 978-3-499-25629-5



„Sie dachte, es sollte mehr Dinge geben, für die man lebte.“

Wie ist es, wenn die Kinder und die bereits erwachsenen Enkelkinder nicht in der Nähe wohnen, der Ehemann und die beste Freundin gestorben sind und nun Zeit bleibt fürs Nachdenken und allein sein in einer beschaulichen, sozial intakten Wohngegend in Pittsburgh bleibt?

Die 80-jährige Emily Maxwell, finanziell abgesichert, stürzt sich nicht auf ihre Krankheiten, sondern umsorgt ihren uralten Hund Rufus mit Liebe und Humor, geht mit ihrer Schwägerin Arlene, einer äußerst schlechten wie kurzsichtigen Autofahrerin, zu Ausstellungen, in die Kirche oder zu Seniorenbrunches. Sie lässt sich von der umgänglichen Betty im Haushalt helfen, den sie allein nicht mehr bewältigen würde. Die alte Frau ist in der kirchlichen Gemeinde eingebunden, obwohl sie in letzter Zeit mehr zu Beerdigungen gehen muss als gewollt und erkennt, dass sie bald im Bekanntenkreis die letzte sein wird. Als Arlene einen Schwächeanfall erleidet und ins Krankenhaus eingeliefert wird, beschließt Emily, den 25 Jahre alten Wagen von Henry, ihrem Ehemann, aus der Garage fahren zu lassen und sich einen neuen kleinen Subaru anzuschaffen. Das gibt ihr Auftrieb und sie ist plötzlich wieder beweglich und nicht mehr von Arlene, obwohl sie sowieso vieles zusammen unternehmen, abhängig.

Geistig auf der Höhe und interessiert an allem was geschieht, fühlt sie Emily allerdings aufs Abstellgleis geschoben. Diejenigen, um die sie sich sorgt und ernsthaft Gedanken macht, wollen kaum etwas hören, was sie zu sagen hat. Auch wenn sie die Hypotheken ihrer Tochter Margaret zahlt, hat sie kaum Anteil an ihrem Leben. Margaret, das Sorgenkind, die trockene Alkoholikerin besucht die Mutter mit den Enkelkindern über Weihnachten. Doch alle Vorfreude schwindet als klar wird, wie groß die Distanz zwischen Mutter und Tochter bereits geworden ist. Emily erinnert sich an ihre Tochter als das mürrische, dickliche Kind, das störrisch geblieben ist bis in die Pupertät. Nachdem sie ihr Studium geschmissen hat, Ehe, Kindererziehung und Scheidung hinter sich hat, hangelt sie sich nun von einem Job zum nächsten.
Emily will unbedingt die letzten Dinge regeln, wenn sie mal nicht mehr ist. Ihr Sohn Kenneth, der es allen recht machen will, ist nur am Telefon präsent und speist sie mit freundlichen Antworten ab. Zu Lisa, ihrer Schwiegertochter, hat sie eher ein gespanntes Verhältnis, denn sie ist diejenige, die fast nie mit ihr spricht. Die Kommunikation mit den Enkeln plätschert so dahin. Ihre Lieblingsenkelin entpuppt sich als Lesbe und auch an ihrem Leben wird Emily, bei aller tiefen Zuneigung, wenig Anteil haben. Emily erkennt, die Zeit, in der sie noch einen Spielraum für Illusionen hatte, ist endgültig vorbei.
Bleibt die Sorge um Rufus, der immer dicker wird. Emilys Radius wird immer kleiner, weniger Freunde, eine sich verändernde Wohnumgebung, immer mehr Fremdes.
Emily als treue Republikanerin hadert mit den Wahlen, hält Barack Obama für einen Platitüdenredner und kann sich auch für ihren Kandidaten nicht erwärmen.
Sie gehört zu der Generation, die noch ein übersichtliches, abgesichertes Leben führen wird. Ihre Kinder und Kindeskinder werden eine andere Zukunft erleben. Nichts Außerordentliches geschieht an den Tagen, die beschrieben werden, es wird auch nichts Ereignisreiches passieren. Der Sommer kommt und Emily kann im Garten werkeln. Ein Lichtblick, dem als Highlight in Emilys Leben die kurzen Besuche der Kinder, die Telefonate folgen. Emily hadert nicht, macht sich nichts vor, sie weiß, was sie erwartet: Einsamkeit und Perspektivlosigkeit.

Stuart O’Nan versetzt sich einfühlsam in die Situation seiner hochbetagten, aber noch rüstigen Protagonistin und schafft es, den Leser atmosphärisch ganz nah und fast fühlbar an Emilys unaufgeregtes, zwischen Melancholie und Selbstironie schwankendes Leben heranzuführen. Er entwickelt seine Figur aus ihrem Inneren heraus, versetzt den Leser in eine fast kontemplative Stimmung und lässt ihn teilhaben an Emilys täglichen Mühen, den Listen, die sie schreibt, den Erinnerungen an längst vergangene gute, aber auch nicht mehr gut zu machende Entscheidungen.