Guillaume Musso: Eine Geschichte, die uns verbindet, Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge, Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2021, 320 Seiten, €17,00, 978-3-86612-484-4
„Man musste jedes Mal wieder alles neu lernen. Und jedes Mal fragte ich mich erneut, wie ich bei den vorherigen Romanen vorgegangen war. Jedes Mal stand ich wieder barfuß im Himalaja. Ja, es wurde jedes Mal schwieriger, etwas Neues zu erschaffen und als Fiktion darzustellen.“
Der Roman beginnt, und wie gewohnt folgt der Leser und die Leserin Guillaume Mussos Figuren in ihren Lebensalltag. Da ist eine walisische, erfolgreiche Autorin, Flora Conway, die eine Sozialphobie hat und sich den Medien verweigert. Denn diese interessieren sich sowieso eher für die Person der Autorin als ihren Roman. Allerdings trifft sich Flora ohne Probleme mit Männern in Brooklyn und übergibt ihr Kind irgendeinem Babysitter, den die Agentur gerade schickt. Seltsam. Als dann eines Tages Flora ihre dreijährige Tochter Carrie am Nachmittag von der Betreuung abholt und die großzügig geschnittene Wohnung betritt, spielen die beiden wie so oft ihr Versteckspiel. Doch kaum hat Flora die Augen geschlossen, ist Carrie verschwunden. Kein Erpresser meldet sich, das Verschwinden des Kindes ist unerklärlich, auch wenn nur ein rosa Hausschuh auftaucht.
Floras Verlegerin Fantine de Vilatte hatte einst Floras ersten Roman mit einem wahnsinnigen Erfolg veröffentlicht und dafür sogar einen eigenen Verlag gegründet. Seit Carrie auf der Welt ist, schreibt Flora zum Ärger der Verlegerin, keine Bücher mehr. Empathielos fordert Fantine Flora auf, doch ihren Schmerz in einen Roman fließen zu lassen. Doch Flora wählt eher den Selbstmord, denn praktischerweise hat ihr guter Bekannter, ein Polizist außer Dienst, seine Glock vergessen. Okay, jetzt stutzt der Leser doch und fragt sich, warum der Autor den Leser für dumm verkauft.
Wie kann denn ein Kind in einer Wohnung, deren Haustür abgeschlossen ist, einfach so verschwinden? Was sollen die Verhörprotokolle?
Ein Aufklärung folgt. Flora und ihre Geschichte stammt nicht aus der realen Welt, wie man zu glauben scheint, sondern ist im doppelten Sinn ausgedacht. Romain Ozorski heißt der Autor, der in Paris sitzt und dem Eigenleben seiner literarischen Figuren keinen Einhalt gebieten kann.
In gewisser Weise hat er auch stellvertretend seine eigene Angst zu Papier gebracht, denn sein siebenjähriger Sohn Théo wird momentan zwischen Vater Romain und Mutter Almine zerrieben. Beide liefern sich einen öffentlichen, schmutzigen Scheidungskrieg. Romain hat dummerweise sein Handy in der Wohnung liegen lassen und die labile wie hinterhältige Almine nutzt die Gelegenheit, um bösartige Nachrichten an sich zu schreiben. So kann sie ihn als Tyrannen und gewalttätigen Kerl hinstellen und das Sorgerecht für ihr Kind, dass eigentlich Romain eher aufgezogen hat, durchsetzen.
In dieser allzu schlechten Verfassung beginnt Romain, mit seiner Kunstfigur Flora zu sprechen. Sie tauschen sich als Schriftsteller über ihre Aufgaben, ihr Publikum und ihr Schreiben aus.
Die Ebenen vermischen sich immer wieder bis klar wird, dass die Autoren Probleme haben, dem eigenen Leben eine Vorherrschaft einzuräumen.
Immer wieder taucht mal Romain bei Flora auf, um sie vor dem Suizid zu bewahren oder Flora taucht in Romains Auto auf, als dieser dabei ist, seiner wirklich unerträgliche Frau die Hilfe zu verweigern.
Es ist ein Spiel mit den Lesern und Leserinnen. Der Schriftsteller als Gott und seine Verantwortung für die Wahrheit wird in den verschiedensten Situationen immer wieder durchdacht und auch zerredet. Und dann lösen sich die Erzählhandlungen einfach logisch auf und es wird geklärt, was nun mit dem Kind Carrie geschehen ist.
Fraglich bleibt beim Lesen immer wieder, wer ist eine wirklich reale Figur und welche Figur ist in der Geschichte der Geschichte ausgedacht, zumal am Ende alle Personen und ihre Verhaltensmuster ein Produkt der Fantasie sind.
Kann es wirklich sein, dass der der schreibt nicht wirklich lebt? Dabei hat die Autorenfigur im Roman mehr als nur neunzehn Romane geschrieben, bis sie beschlossen hat, keine Zeile mehr zu verfassen.
Mit einer Fülle an Zitaten von berühmten Autoren und Autorinnen untermauert der französische Autor Guillaume Musso sein Gedankenkonstrukt über die Identität oder Scheinidentität des Autors und seine Fähigkeit, Geschichten zu erfinden oder doch über das eigene Leben verfremdet zu schreiben.
„Roman beendet.
Ich kehre ins Leben zurück.“ Georges Simenon, Als ich alt war