Anne Tyler: Eine gemeinsame Sache, Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger, Verlag Kein & Aber, Zürich 2022, 352 Seiten, €26,00, 978-3-0369-5875-0

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„Denn in dieser Familie gab es nicht nur die Kleinen und die Großen, sondern auch die Vernünftigen und die Durchgeknallten. Oder, wie Tante Lily es nannte, die Schwierigen und die Unkomplizierten. Ihr zufolge war Alice die Schwierige, während Lily sich selbst als unkompliziert betrachtete, womit sie sorglos und entspannt meinte. Die Guten gegen die Bösen, darum ging es in Wahrheit. Und jeder verstand etwas anderes darunter.“

Die Familie ist und bleibt das große Thema der nun mittlerweile achtzigjährigen Schriftstellerin Anne Tyler. Die Amerikanerin erzählt in diesem neuen Roman von den Geschehnissen in der Familie Garrett, die an der Ostküste lebt. Im Jahr 2010 treffen sich per Zufall Serena und ihr Cousin Nicholas. Sie sind sich völlig fremd, denn das Familienleben der Garretts findet nie so statt, wie man es aus amerikanischen Filmen kennt, in denen alle Familienmitglieder froh oder streitend zu Thanksgiving an einem Tisch sitzen, die Kinder durchs Haus toben und jeder jeden kennt.
Sicher ist die Darstellung der Garretts eher realistisch als die Thanksgiving- oder Weihnachtswelt der heilen amerikanischen Familie.
Urgroßvater Wellington hatte in Baltimore das Sanitärunternehmen gegründet, dass Serenas Großvater Robin übernehmen wird. Er heiratet die angebetete Mercy und beide bekommen drei Kinder. Im Jahr 1959 gönnt sich die Familie ihren ersten Urlaub, aber da ist Alice bereits siebzehn, Lily fünfzehn und David ist sieben Jahre alt. Der Junge ist schüchtern, hat wenig Lust im See zu spielen und fühlt sich von seinem burschikosen Vater nicht beschützt. Auch Mercy kümmert sich nur um sich selbst. Sie hat wenig Lust zum Kochen und malt lieber, ob nun mit Talent oder ohne bleibt ein Geheimnis. Als die Kinder aus dem Haus sind, beginnt sich Mercy von Robin zumindest räumlich zu trennen. Sie widmet sich in ihrem Atelier ganz ihrer Malerei, lässt sich von den Töchtern anrufen, scheint aber kaum Interesse an ihren Enkelkindern noch am Familienleben zu haben. Nur David, der nach dem Auszug aus dem Familienheim sich kaum bei seinen Eltern oder Schwestern meldet, kann sie noch zu einer Familienfeier locken. Alle schweigen über die seltsame Beziehung der Eltern, die sogar ihre goldene Hochzeit unter sehr seltsamen Bedingungen feiern werden. Robin hat wenig Verständnis für die künstlerischen Ambitionen seines Sohnes. Als Klempner erwartet er, dass Männer wie er mit den Händen arbeiten. Alice ist äußerst pragmatisch und erfolgreich, Lily bleibt die Leichtigkeit im Leben bis zur dritten überraschenden Hochzeit erhalten.

Chronologisch verfolgt Anne Tyler mit ihrer Erzählkunst, konventionell wie realistisch, die Lebenswege der unterschiedlichen Familienmitglieder bis in die Gegenwart, bis in die Pandemie. Als Meisterin der poetisch sanften multiperspektivisch aufgefächerten Zeitdiagnose umschifft sie im Familienleben die Politik und vor allem wahre Gespräche. Sie finden einfach nicht statt. Weder David noch jemand anders umarmt den anderen, es herrscht entweder versteckte Feindschaft oder Schweigen.
Anne Tylers Bücher sind große Leseerfahrungen für alle, die Literatur als ein Mittel zu schätzen wissen, um mit den vielleicht allzu bekannten Befremdlichkeiten des Lebens besser zurechtzukommen.